25. Jahrgang | Nummer 23 | 7. November 2022

Farbige Eskimos auf Mission in Kiew

von Jürgen Hauschke

Außer den beiden Präpositionen sind alle Wörter der Überschrift im Inhaltsverzeichnis des erst kürzlich erschienenen Buchs „Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache“ zu finden. Der Autor Matthias Heine knüpft an sein 2019 ebenfalls im Dudenverlag verlegtes Buch an: „Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht“. Dieses Mal nimmt er sich 78 Wörter vor, um sie auf ihre Tauglichkeit im aktuellen Sprachgebrauch „zu mustern“. Ein umfangreicher Anmerkungsteil mit vielfältigen Belegen rundet das Buch ab. Heine arbeitet als Redakteur im Feuilleton der Tageszeitung Die Welt. Sprachgebrauch und Sprachwandel sind für ihn immer wiederkehrende Themen als Journalist wie als Buchautor.

Das Fragezeichen im Buchtitel ist ernst gemeint. Heine gibt selten klare Antworten. Was er stets durchhält, ist die Beschreibung der einzelnen Begriffe nach dem gleichen Schema: sprachgeschichtlicher Ursprung, wechselnder Gebrauch, Referieren der Kritik und aktuelle Einschätzung. Deutlich unterscheidet sich der Umfang der einzelnen Wortbeschreibungen. Er schwankt zwischen einer Buchseite („anschwärzen“) und elf Seiten („Neger“). Im Durchschnitt sind es drei bis vier Seiten Text je beschriebenes Wort.

Einige der aufgenommenen Wörter sind die üblichen Verdächtigen: „Indianer“, „Hasenscharte“ oder „Negerkuss“. Andere überraschen den Leser: „Milch“, „Vater / Mutter“ oder „Punkt (Satzzeichen)“. Es geht dem Autor nicht um Begriffe, die schon immer abwertend oder diskriminierend gebraucht wurden. Die gewählten Begriffe galten ursprünglich als neutral. Die Wörterliste ist natürlich nicht als eine vollständige zu sehen. Manche Begriffe sind ausdrücklich nur als ein Pars pro Toto zu verstehen („Breslau“ oder „Kaffernbüffel“).

Heine beobachtet, in der Gegenwart würden scharfe, geradezu existenzielle Konflikte um „das richtige Sprechen“ ausgetragen. „Manche“ glaubten heute, das „Wohl und Wehe“ einer diversen, modernen und offenen Gesellschaft sei bedroht durch die Weiternutzung bestimmter Begriffe. Dabei sieht er nicht Konservative oder „Rechte“ als Auslöser, sondern eher Gruppen, „die mittlerweile fast wöchentlich etablierte Begriffe als ‚rassistisch‘, ‚sexistisch‘ oder ‚ausgrenzend‘ brandmarken“. Also zum Beispiel eine „woke“ und sogenannte „linksliberale“ Mittelschicht – im Sinne von Sahra Wagenknechts Begriffsverständnis in ihrer Streitschrift „Die Selbstgerechten“. Gemustert werden Wörter, die problematisch wurden. Die in dem Sinne kaputt geworden sind, dass ihre Benutzung „Kommunikationsstörungen“ auslösen kann.

Verursacher des „Sprachkampfes“ erkennt Heine in bisher weitgehend unsichtbaren oder stigmatisierten Gruppen, die nun einen legitimen Anspruch darauf erheben, mitzubestimmen, wie man sie nennt und wie man über sie redet. „Verstörend ist allerdings der schrille Ton, mit dem Aktivisten häufig das Recht fordern“, so formuliert Heine, „Fragen des Wortgebrauchs ausschließlich und endgültig in ihrem Sinne zu entscheiden, statt mit offenen demokratischen Diskussionen für eine Veränderung zu werben.“ Einen zweiten Grund beobachtet er in der digitalen Medienrevolution. Was früher am Stammtisch oder beim Kaffeeklatsch blieb, werde heute bei Facebook oder Twitter ausgetragen. Auch die öffentliche Rede habe eine ungleich größere Reichweite über die sozialen Medien. Die Beschimpfung linker Kritiker als „Ratten und Schmeißfliegen“ durch Franz-Josef Strauß brauchte noch Tage bis Wochen, bis sie allgemein bekannt wurde. Heute wird innerhalb weniger Stunden ein ungleich größeres Publikum als damals mit noch größerem Empörungspotenzial erreicht. Drittens vermutet Heine, ohne dies zwingend zu begründen, eine in Deutschland „besonders ausgeprägte Furchtsamkeit in Bezug auf falsche Sprache“.

Als Grundüberzeugung, der man durchaus folgen kann, formuliert Heine deutlich, „dass keine Regierung, keine Behörden und erst recht keine Minderheiten den 200 Millionen Deutschsprechern vorzuschreiben haben, welche Wörter sie gebrauchen dürfen. Auch dann nicht, wenn solche Minderheiten sich von den Wörtern betroffen oder diskriminiert fühlen.“ Betroffenheit und sich diskriminiert fühlen können keine Legitimation für sprachpolitisches Handeln sein, da sie Willkür ermöglichten. In einem Zeitalter, das verantwortungsbewusste Nachhaltigkeit beschwört, sollten auch jahrhundertealte, vermeintlich kaputte Wörter zumindest auf ihre „Reparaturfähigkeit“ geprüft werden. Heine empfiehlt sein Buch als Materialsammlung dazu und seine Einschätzungen als Diskussionsvorschläge für eine solche Prüfung.

Einige weitere Beispiele von Begriffen aus dem Buch seien kurz vorgestellt: „Kameruner“ (ein Gebäck) ist bis heute eine übliche Bezeichnung, ganz anders als „Mohrenkopf“ oder gar „Negerkuss“ – weshalb das so ist, kann man beim interessierten Nachlesen erfahren. Die Einflüsse insbesondere des amerikanischen Englisch auch auf den Gebrauch deutscher Begriffe kann man an vielen Beispielen nachvollziehen: „farbig“, „schwarz“, „Neger“. Wobei das deutsche Wort „Neger“ zwei Bedeutungsaspekte in sich vereint: das neutrale „negro“ und das rassistische „nigger“ im Englischen. Gegen die aus dem Englischen stammende Tabuisierung des Begriffs (N-Wort oder N*-Wort) stellt sich Heine. Zum einen stehe „n-word“ nur für „nigger“. Zum anderen erinnere diese vermeintliche Unschädlichmachung des Wortes an Sprachmagie wie an die Vermeidung des Teufelsnamens im Aberglauben. Außerdem reproduziere auch die hieroglyphische Schreibweise das Wort, denn lesen und verstehen könne man diese Zeichen nur, wenn man das eigentliche Wort „Neger“ kenne. Zitate aus geschichtlichen Quellen würden mit dieser Schreibweise unhistorisch verfälscht. Ähnliches gilt übrigens auch für die in jüngster Zeit benutzte Chiffre „Z-Wort“. Ein ausführlicher Eintrag begründet, weshalb die Bezeichnung „Sinti und Roma“ besser an Stelle des Wortes „Zigeuner“ verwendet werden sollte. Sicher, „Zigeuner“ zu sagen, ist obsolet. Dadurch ergeben sich aber andere Probleme im Sprachgebrauch, die Heine nicht anspricht: Die rein männlichen Bezeichnungen Sinti und Roma unterdrücken chauvinistisch die weiblichen Wortformen „Sintiza“ und „Romni“. Die plurale Wortformel erschwert die Bezeichnung einzelner Personen. (Selbst wenn es ein Stereotyp bedient: Ein Sinti und Roma hat in Budapest ins Weinglas gegeigt?) Auch nicht alle Zigeuner bezeichnen sich selbst als Sinti oder Roma.

Versuche, geeigneten Ersatz für ein „kaputtes“ Wort zu finden, führen nicht nur hier zu mitunter unvollkommenen Notbehelfen. Aus dem sprachlich nicht mehr üblichen „Selbstmord“ wird über den Umweg „Freitod“ der „Suizid“. Das lateinische Wort wiederum drückt nichts anderes aus, als die Flucht in eine andere Sprache. Der jetzt bevorzugte Begriff bedeutet allerdings exakt das Gleiche wie das deutsche Wort. Es gibt auch die Fälle, wo ein Schimpfwort zu einer stolzen Eigenbezeichnung gewendet wird: „Schwuler“. Aktuelle politische Gründe führen selbst zu sachlich unbegründeten Wortverdikten („russischer Zupfkuchen“). Oder aber sie führen zur Verzichtsaufforderung auf die bisher übliche, aus dem Russischen stammende Benennung und zum Gebot der alleinigen Nutzung der ukrainischen Form („Kiew“ zu „Kyjiw“ oder „Kyiv“). Die deutschen Medien folgten bisher bei „Kiew“ der u. a. von ukrainischen Politikern vertretenen Aufforderung weitestgehend nicht. Aus „Charkow“ und „Lwow“ wurden jedoch überwiegend „Charkiw“ und „Lwiw“, wenn in dem einen Fall nicht ohnehin der deutsche Name „Lemberg“ gebraucht wird. Nach meinem Verständnis ist „Kiew“ in den vergangenen Jahrhunderten auch eine deutsche Bezeichnung für die ukrainische Hauptstadt geworden. Viele der im Buch vorgestellten Worte geraten erst seit etwa zehn Jahren in die Diskussion: „Mohr“, „invasive Art“, „Pizza Hawaii“, was belegt, dass sich aktuell die Auseinandersetzungen um den „richtigen“ Sprachgebrauch verstärken.

Der Autor will ausdrücklich zum Weiterdenken anregen. Das ist auch ein Grund dafür, dass seine Wertungen mitunter ein klares Ja oder Nein vermissen lassen und viel öfter ein Sowohl-als-auch enthalten. Diese Offenheit macht das Buch insgesamt für einen auch an kontroversen Debatten interessierten Leser lesenswert.

Matthias Heine: Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache, Dudenverlag, Berlin 2022, 301 Seiten, 22,00 Euro.