Es ist hohe Zeit, dem immer noch verbreiteten Mythos zu Leibe zu rücken, das Nazi-Führungspersonal – allen voran Hitler, Himmler, Goebbels und Göring – habe aus so einzigartig abnormen pathologischen Verbrechertypen bestanden, dass sich die Geschichte schon deswegen nicht wiederholen könne. Das gilt gerade in einer gesellschaftlichen Gesamtsituation, in der die AfD am rechten Rand des politischen Spektrums Wählerzuwächse verzeichnet, die offenkundig auch nicht dadurch abgebremst werden, dass in der Partei so unappetitliches Führungspersonal wie Björn Höcke unterwegs ist oder wie Alexander Gauland, für den das Dritte Reich mit seinen monströsen Verbrechen nur ein Fliegenschiss war. Daher hat Joachim A. Lang mit „Führer und Verführte“ einen sehr notwenigen Film geschaffen. Auch wenn, wie das Filmmagazin Yorker hervorhob, die „Täterperspektive […] bisweilen schwer zu ertragen“ ist.
Der Streifen zeigt den beruflichen und privaten Alltag der obersten Nazi-Täter am Beispiel von Joseph Goebbels (oscarwürdig verkörpert von Robert Stadlober) und die NS-Granden dabei als die höchst durchschnittlichen Menschen, die sie waren: Spießer mit Übergewicht (Göring), schlechter Verdauung (Hitler), kruden völkischen Phantasien (Himmler) und mit unsympathischem Geltungsdrang sowie Knatsch wegen Seitensprüngen (Goebbels), die in einer bestimmten historischen Situation an die Macht gelangen konnten, weil erst ein erheblicher Teil des deutschen Volkes ihren Rattenfängerparolen auf den Leim ging und NSDAP wählte und weil nach der Machtergreifung praktisch das gesamte Volk sie gewähren ließ. Zwar war dieses Volk extremer ideologischer Manipulation durch den von Goebbels virtuos gehandhabten Propagandaapparat des Dritten Reiches ausgesetzt, wie Lang nicht nur am Beispiel von Goebbels’ berüchtigter Sportpalastrede („Wollt ihr den totalen Krieg?“) verdeutlicht. Doch es gab auch hinreichend ganz normale Menschen, die durch Mittun selbst bei schlimmsten Verbrechen ihr ganz privates Schäfchen ins Trockene brachten. Das hat vor kurzem ein anderer Film, „The Zone of Interest“, eindrücklich thematisiert (siehe Blättchen 6/2024).
Die Frage des Spiegels zu „Führer und Verführte“ jedenfalls, ob Langs Herangehensweise, „die Nazis als Menschen zu zeigen, zielführend“ sei, lässt sich klar bejahen. Oder mit dem Zitat des Holocaust-Überlebenden Primo Levi am Ende des Films beantworten: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“
Völlig unverständlich allerdings ist, worauf Katja Hoyer in der Berliner Zeitung hingewiesen hat, dass der Film von „Vision Kino“, einer Institution unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten, für eine Empfehlung an Lehrkräfte abgelehnt wurde. Holocaust-Überlebende hatten sich für den Film eingesetzt.
„Führer und Verführte“, Drehbuch und Regie: Joachim A. Lang; derzeit in den Kinos.
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Im Vergleich zu vor 50 Jahren, als der Besprecher juveniler Kinogänger war, sind sogenannte Kostümfilme lange aus der Mode gekommen. Seinerzeit waren sie speziell im Segment Mantel und Degen so angesagt, dass man auf das nächste dieser cineastischen Events nie allzu lange erwarten musste. Protagonisten wie die drei, besser vier Musketiere oder Leinwandhelden, die von Jean Marais, Gérard Barray oder Jean-Paul Belmondo verkörpert wurden, verhedderten sich in ihren knöchellagen Pelerinen nur deswegen nicht, weil sie die vor dem Waffengang mit dem von ihnen artistisch beherrschten Degen von sich warfen. Wenn man seinerzeit das Kino verließ, ging man danach nicht nur grundsätzlich links neben seiner, soweit deren Verführung ins Kino gelungen war, Angebeteten, sondern man wusste auch warum: Um als Rechtshänder im Falle des Falles den Degen zu deren Verteidigung ohne Behinderung ziehen zu können.
Wenn auch leider dem Subsujet Mantel und Degen ziemlich abhold, gelangen Kostümfilme immer noch ab und an in die Kinos. Besprochen in dieser Kategorie wurde hier in diesem Jahr bereits „Geliebte Köchin“ (siehe Blättchen, 5/2024).
Der aktuelle Kostümfilm ist „King’s Land“. Ein Ex-Soldat versucht im 18. Jahrhundert in einem Dänemark, dessen herrschende Klasse an Unsympathie allenfalls noch durch das weit früher agierende Führungspersonal des Shakespeare’schen Dramas Hamlet übertroffen wird, eine sich jeder wirtschaftlichen Nutzung penetrant verweigernde Heidelandschaft für den Ackerbau urbar zu machen. Solches wirtschaftlich ungenutztes Land war in Dänemark Eigentum des Königs. Man brauchte zum Kolonisieren eine behördliche Genehmigung. Die bekommt der Typ, den Mads Mikkelsen in der Hauptrolle auf die Leinwand bringt. Als Mensch ist der zunächst auch eher einer zum Abgewöhnen. Die Figur basiert auf historischen Vorbildern. Der Streifen ist die Verfilmung des Romans „Kaptajnen og Ann Barbara“ („Der Kapitän und Ann Barbara“) von Ida Jessen, die dafür in Archiven entsprechend recherchiert hat.
Der Film ist beeindruckend fotografiert, spannend, aber nicht über die Maßen blutrünstig. Beste Kinounterhaltung.
Die Kritik hat „King’s Land“ als „nordischen Western“ gelabelt, was man durchgehen lassen kann. Noch so ein aus der Mode gekommenes Filmgenre …
„King’ Land“, Drehbuch (Mit-Autor) und Regie: Nikolaj Arcel; derzeit in den Kinos.
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Dass mathematische Genies im Oberstübchen völlig anders ticken müssen als wir Normalsterblichen, wird jeder vermuten, dem die nachgerade erotische Faszination verschlossen bleibt, die offenbar von Primzahlen und der sogenannten starken Goldbachschen Vermutung ausgeht. Der deutsche Mathematiker Christian Goldbach formulierte diese in einem Brief an seinen Kollegen Leonhard Euler vom 7. Juni 1742. Sie lautet: Jede gerade Zahl, die größer als zwei ist, ist Summe zweier Primzahlen. Mathematisch bewiesen werden konnte das bis zum heutigen Tage nicht.
Um dieses Phänomen herum einen Liebesfilm drehen zu wollen, mag nach einem Versuch der Quadratur des Kreises klingen – der Begriff steht bekanntlich als Metapher für unlösbare Probleme. Doch Anna Novion ist es mit ihren Hauptdarstellern Ella Rumpf und Julien Frison gelungen.
„Die Gleichung ihres Lebens“, Drehbuch (Mit-Autorin) und Regie: Anna Novion; derzeit in den Kinos.
Schlagwörter: Clemens Fischer, Die Gleichung ihres Lebens, Führer und Verführte, King’ Land