Dauerhafte Momentaufnahmen – Berlin der Künstler

von Klaus Hammer

Warum haben seine Blätter, die ebenso impulsiv wie präzise sind, eine so zarte, spröde und unverwechselbare Ausstrahlungskraft? Der 2001 verstorbene Berliner Nestor der Zeichnung und Grafik Arno Mohr hat nicht gern von Gefühlen gesprochen, wo er doch eine strenge Disziplin am Werk wusste. Gleichwohl war die Sensibilität, eine hohe reizbare Empfindsamkeit, die Feinstimmung des Sensoriums, die Voraussetzung für seine Arbeiten.

Viele hat er zeichnen und drucken, Maß halten gelehrt, die dann selbst anerkannte Künstler geworden sind. Und doch sagte er von sich: „Meine Hochschule war und ist die Straße“. Das spezifisch Berlinische war für ihn ein bestimmender Wesenszug seiner Kunst. Das Liebermann-Wort „Zeichnen heißt Fortlassen“ hat Mohr – besonders in den Lithografien – in eine ihm gemäße Form umgesetzt. Sein Weg führte den Meister vom Arbeitsplatz und von der eigenen Wohnung zu den Berliner Kneipen, Kaffeehäusern und Gartenlokalen an der Spree, vom S-Bahnhof am Hackeschen Markt und der Weidendammer Brücke zur Oranienburger Straße, Chausseestraße und Unter den Linden, von der Friedhofsecke und dem kleinen Rummelplatz in Alt-Berlin zur Museumsinsel mit ihren imponierenden Bauten. Er nahm den „Einsamen Mann“ wie einen dunklen Punkt in der unendlichen Horizontale der Landschaft wahr, beobachtete aus der Ferne die kleine Unterhaltung zweier Frauen („Auf dem Balkon“, Radierung, 1996). Er wählte einen „unscheinbaren“ Teilaspekt und führte ihn auf überraschende Weise weiter. Die Szene komplettierte er nicht zum Genrebild. Ihm „genügte“ ein fragmentarischer Stil, oft eine Minimalgeste nur.

Vor allem ostdeutschen Künstlern des wiedervereinigten Berlin hat die Galeristin Sabine Ulber, die die 1990 von ihrem Vater Peter Röske gegründete Galerie der Berliner Graphikpresse in Berlin-Friedrichshain so erfolgreich fortgeführt hat, Präsenz und Wirkung vermittelt. Es wurden Mappenwerke und Künstlerbücher herausgegeben. Die jährlichen Kunstauktionen der Galerie waren bildkünstlerische Höhepunkte in der Hauptstadt. Ihre Galerieräume in der Innenstadt musste sie ja aufgeben und nun hat sie sie in ihrem Domizil in Altglienicke neu eröffnet.

Mit „Berlin im Blick. Künstler sehen ihre Stadt” haben sich Künstler zusammengefunden, die mit ihrer Galerie eng verbunden waren und sind.

Ja, das stille Medium der Zeichnung und Grafik haben viele von Arno Mohr gelernt. Die Poesie der Szene kann nur in künstlerischer Form überleben, sie beruht auf der freien Erfindung der Formelemente und dennoch ihrer klaren zeichnerischen Präsenz. Das zeigen die Blätter von einstigen Schülern Arno Mohrs, aber auch befreundeter Kollegen anderer Herkunft, die sich mit dem Berlin-Thema auseinandergesetzt haben.

Beklemmende menschenleere architektonische Situationen geben Manfred Butzmanns Farboffsetlithografien und Aquatintaradierungen – auf dem für sie charakteristischen unregelmäßig-körnigen Grund – wieder: Ein Ost-Berlin der 1980er Jahre, unbestechlich in seiner Authentizität, Kriegs- und Nachkriegszeit mit einbeziehend, Alt- und Neubauten im Mit- und mehr im Gegeneinander, architektonische Disproportionen, die auf die Sozialstruktur verweisen, das Mauerwerk mit sprechenden Erosionen, die Geschichte, Witterung, Umweltschäden bewirkt haben („Berliner Giebelwände“, 1981; “Stadtbahnwände“, 1986).

Antje Fretwurst-Colberg ist in ihren meist kleinformatigen Ölbildern und Gouachen immer wieder zu vertrauten Berlin-Motiven zurückgekehrt. In einem unbewachten Augenblick konnte sie die Menschen und Dinge beobachten. Immer wieder überrascht sie die vertrauten Dinge in ihrem Blickfeld, beschneidet sie auf merkwürdige Weise, malt sie von unerwarteten Winkeln aus. Sie entwickelt einen ausgesprochenen Sinn für das Räumliche, für verkürzte oder erweiterte Perspektiven und Horizonte, für versetzte Sichten („Kahn an der Jannowitzbrücke“, Gouache über Radierung, 1991). Geheimnisvoll, still liegt die Farbe auf ihren fast stilllebenhaften Bildern, wie Gedanken, die sich lautlos auf ihren Gegenständen abgelagert haben.

Für den Zeichner, Grafiker und Maler Dieter Goltzsche wurde seine Umwelt zum Fokus, zur Welt im kleinen Maßstab. Sie lieferte ihm Anlass und Hintergrund, um heutige (Großstadt-)Erfahrung in der ganzen Spanne zwischen Unrast und Einsamkeit, zwischen visionärem Träumen und banaler Alltäglichkeit tagebuchartig einzufangen. Seine Formwelt entfaltet sich aus den ausbalancierten Bezügen farbiger Texturen, aus dem Wechselspiel von Anpassung und Kontrast, aus assoziativen Zuordnungen. Der Improvisation, der Freiheit des Spiels folgt die zunehmende Begrenzung durch Definition, durch Form- und Farbentscheidung. Das Flüssige gerinnt zum Festen, das Diffuse zum Geformten, und dieses wiederum tendiert zur Auflösung. Der Vielansichtigkeit der Welt, die das jeweils eine, stets unvollkommene oder falsche Weltbild abgelöst hat, entspricht im Künstlerischen die Vielfalt des offenen Experiments.

Für den 1991 früh verstorbenen Gerenot Richter wird die Sprache der Radierung, ihre Sprödigkeit und Schönheit, nicht ihre Technik dominant. Dabei sind seine Arbeiten in einer Weise diszipliniert, die das freie Spiel erst möglich macht. Er gibt gleichnishafte Landschaften („Die neue Friedrichsbrücke“, Radierung, 1987), lässt in ihnen poetische Bildphantasie und Fabulierkunst walten. Es geht ihm ja nicht darum, treffend abzubilden, sondern zu strukturieren und zu erfinden. Der Vorgang forschenden Sehens kann auch die Illusion von Vorne und Hinten auf der Fläche erzeugen.

Klaus Roenspieß – 2021 verstorben – hat fast ein ganzes Menschenleben zwischen Berlin-Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain verbracht. Scheinbar wird das Gegenständliche verschluckt durch die monochrome Farbe („Berliner Kanal“, Holzschnitt, 1988), man hat auch von einer „schwarzen Periode“ gesprochen. Geisterhaft, vexierbildhaft tauchen gegenständliche Motive auf, die sich das Auge des Betrachters erst aus dem Farbgefüge zusammensuchen muss. Er vermag so eine Sprache von unerhörter Sensibilität zu entwickeln. Seit Mitte der 1980er Jahre hat sich seine Farbskala erhellt, ist die Bildtektonik in Bewegung, in Veränderung geraten. Es geht Roenspieß nicht um den flüchtigen Augenblick, nicht um das Vorüberhuschende und Entgleitende der Erscheinung, sondern um deren Dichte und Dauer im Sinne der gestalteten Malerei, die sich in die Natur nicht mehr einfühlt, sondern ihr eine Ordnung entrissen hat, die im Kunstwerk jetzt selbständig gegenüber der Natur steht.

Lapidar sind Ursula Strozynskis Kaltnadelradierungen, von denen sie einige auch aquarelliert hat, Monotypien, Collagen und Arbeiten in Mischtechnik betitelt. Es sind klare, reduzierte, auf das Wesentliche orientierte Architekturlandschaften, Konstruktives aus Stahl, Glas, Mauerwerk und Beton, rhythmisch Strukturiertes. Von der Offenheit des Unbestimmten verläuft ihr Arbeitsvorgang zur erreichbaren Klarheit und Bestimmtheit. Der Strich wird zum Stützwerk, die Konstruktion schiebt sich vor die Darstellung. Das eigentliche Thema tritt erst in der Endphase, im Zustand der Verdichtung und Verbindung der Ebenen in Erscheinung.

Noch weitere Künstler müssten genannt werden: Klaus Magnus, Monika Meiser, Harald Metzkes, Manfred Pietsch, Gottfried Richter, Anke Rische und Susanne Schüffel. Für alle aber gilt: Sie komplettieren die Szene nicht zum Genrebild. Ihre Blätter sagen viel, aber sie erzählen nicht. Mit sparsamstem Strich vermögen sie eine unverwechselbare Atmosphäre zu vermitteln. Die besondere Stimmung der Szene teilt sich dem Betrachter so einprägsam mit, dass er sie noch lange im Gedächtnis behalten wird. Berlin hat viele Gesichter, aber jeder Künstler bringt eine ganz unverwechselbare Sicht- und Ausdrucksweise in die Ikonographie dieser Stadt ein.

„Berlin im Blick. Künstler sehen ihre Stadt.“ Galerie der Berliner Graphikpresse. Am Falkenberg 25, 12524 Berlin-Altglienicke, bis 31. August. Katalog als pdf verfügbar. Öffnungszeiten und weitere Informationen online.