Diesmal: Lektüre für den Feriensommer: „Eine Puppe packt aus“ – Dokumentarroman von Klaus Thaler. – Und für Branchen-Spezies: René Pollesch im Gespräch
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Jugend-Boheme in DDR-Berlin
Sie nannten sich „Die Scharlatarne“ (mit zweimal „r“). Oder „Ichfunktion“, „Freygang“, „Herbst in Peking“, „Die Firma“. Oder „Grober Unfug“. Und sie rockten mit ihren wütenden, frech improvisierten Konzerten die Punk-Szene Ostberlins nebst Umgebung. Und gründeten Clubs wie „Eimer“ oder „Tacheles“, die zugleich Werkstätten waren für dadaistisch, auch obrigkeitskritisch inspirierte Kunstproduktionen lyrischer, foto-graphischer, musikalischer, szenischer Art – der kollektive Hit war das märchenhaft fantastische, grell artifizielle Modelabel „CCD – chic, charmant & dauerhaft“.
Ja, die Unangepassten, die da miteinander, ab- und aufeinander hockten und die verrücktesten, hinterrücks politisch eingefärbten Kunstblüten erfanden, die feierten im DDR-Berlin der 1980er Jahre ihre ganz eigene Jugendkultur als Untergrund-Gegenstück zum staatlich gesteuerten Betrieb der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Sie hatten ihren Spaß, waren intelligent, begabt, strotzend vor Fantasie und voller Gier auf provokante Selbstdarstellung. Das war eine ziemlich unergründliche Mischung aus Privat, Halböffentlich und klammheimlich offizieller Duldung. Die Stasi passte auf oder schlug zu, wenn es ihr zu brenzlig wurde. Die miefigen Behörden ließen mal etwas locker, bemühten sich gar als vorsichtige Förderer (im Zentralen FDJ-Club „Haus der jungen Talente“; heute „Podewil“).
Es überrascht noch heutzutage, was für seltsame Biotope doch seinerzeit wucherten im diktatorisch durchregierten Realsozialismus: als geduldete Nischen im monolithisch gemauerten System, als Ventile für Frust und anarchistisch lodernden Individualismus. Freilich muss man wissen: Einige der Protagonisten dieser auch das Absurde streifenden Szene hatten einen Schutzmantel: Die Eltern waren bekannte, auch anerkannte, gar prominente Namen im DDR-Kulturbetrieb.
So auch Jonas Soubeyrand. Seine Mutter, die Schauspielerin und Regisseurin Brigitte Worringen, stammt aus Köln, war verheiratet mit dem französischen Pantomimen Jean Soubeyrand, zusammen hatten sie Sohn Manuel, geboren 1957. Das Jahr darauf ging die Mutter mit Sohn rüber nach Ostberlin zu Helene Weigels Berliner Ensemble; gehörte aber bald schon zum Kreis um Benno Besson, erst am Deutschen Theater, dann an der Volksbühne.
Brigittes zweiter Sohn Jonas Soubeyrand wurde 1965 geboren und hat Wolf Biermann zum Vater; später wurde der Schauspieler Christian Grashof eine Zeitlang sein Ziehvater. Wie sein Halbbruder Manuel (zuletzt Intendant in Senftenberg, 2022 an Corona gestorben) wuchs auch Jonas quasi im Theater auf. Er machte eine Lehre als Drucker; wurde später Puppenspieler. Das erste Kasperletheaterchen spendierte im übrigens Papa Wolf. Gegenwärtig betreibt er ein über Land reisendes Puppentheater und lebt in dem uckermärkischen Nest Klausthal.
Der Schriftsteller Peter Wawerzinek, alter treuer Freund aus Jugendzeiten, drängte Jonas, ein Buch zu machen über die alten Zeiten. Ansonsten glaube ja keiner mehr, was damals, in den Achtzigern und Neunzigern mit der „Wende“ mittendrin, mit Mut und Fantasie alles möglich war an Jugend, Boheme, Aufschrei, Kunst und Kakophonie. Damit aber das im Kern kulturgeschichtliche Buch nicht ausartet in Verklärung und Sentimentalität, solle doch, riet Peter, der Bär erzählen. Er meint Zorro, Soubeyrands großmäuliges Knuddeltier seit Kinderzeiten.
Folglich heißt der Titel des höchst unterhaltsamen, zum Lachen, Staunen und auch Kopfschütteln herausfordernden „Dokumentarromans“ in 33 Kapiteln „Eine Puppe packt aus“. Aufgeschrieben von Klaus Thaler, Soubeyrands Pseudonym mit Gruß ans Dörfchen Klausthal.
Bemerkenswert, dass Thaler sein Script vor Drucklegung vielen Personen, die im Text auftreten, vorlegte mit der Bitte um Kommentar. Interessant, wie die Leute nach gut einem Vierteljahrhundert aufs Damals schauen: Ohne Zorn, mit Witz, spitzen Richtigstellungen und beiläufiger Preisgabe bislang ungekannter, unerhörter Details.
Klaus Thaler: Eine Puppe packt aus, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2023, 333 Seiten, 22,00 Euro.
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Ameise der Kunst
René Pollesch: Früher Tod im Frühjahr mit 62 Jahren, Volksbühnenchef, Regisseur, Protagonist der Postdramatik, Autor von rund 200 Stücken. Geschrieben als eine fantasievoll-aufklärerische „Selbsthilfe für die Wirklichkeit“; also handelnd vom Einzelnen, gebeutelt von den Zumutungen kapitalistischer Ausbeutung, sich dagegen wehrend und obendrein lechzend nach Lust und Liebe. – „Das Leben der Menschen ist grundsätzlich von dunklen Wolken überzogen, wie unter einer grauen bösen Watte. Aber manchmal, wenn der Himmel aufreißt, dann geht es dem Menschen gut. Wenn der Mensch alleine ist, wird er verrückt.“
Oder: „Je suis no Selbstverwirklichungsnarzisstensau; ich bin die Ameise der Kunst.“ – Witz und Sarkasmus, Drastisches und Schmerzliches prägen Polleschs antipsychologisch konstruierte Texte, die sich freilich auch immer wieder verlieren im Entrückten oder einfach: im Unverständlichen.
Gut, dass da der Theaterwissenschaftler und Publizist Thomas Irmer, kritischer Beobachter der sagenhaften Pollesch-Karriere von Anfang an, ein R.-P.-Büchlein zusammenstellte: Mit Interviews und Gesprächen (aus zwei Jahrzehnten) über Renés Schreib- und Bühnenbetrieb. Es lässt seinen schillernden, mit Theorien und teils bizarren Verfremdungen gespickten Kosmos anregend aufblitzen.
Thomas Irmer: René Pollesch – Arbeit. Brecht. Cinema. Interviews und Gespräche, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2024, 92 Seiten, 15,00 Euro.
Schlagwörter: Klaus Thaler, Reinhard Wengierek, René Pollesch, Theaterberlin, Thomas Irmer