27. Jahrgang | Nummer 14 | 1. Juli 2024

Theaterberliner – Blick aus einer Schlüsselposition

von Reinhard Wengierek

Auf den Tag ziemlich genau vor 47 Jahren – in der Weltbühne Nummer 27 vom 5. Juli 1977 – hatte unser hoch geschätzter Theaterberliner Reinhard Wengierek sein Autorendebüt zwischen den legendären roten Pappdeckeln. Das sollte eigentlich im Eulenspiegel stattfinden. RW war seinerzeit trotz politischer Querelen in höchst verantwortungsvoller Position am Deutschen Theater tätig. Als Pförtner. Im Dreischichtsystem! Da war’s dann nächtens in den heiligen Hallen auch schon mal nicht ganz ungruselig … Doch man gelangte zu Durchblicken und Einsichten und brachte diese zu Papier sowie jenes zum erwähnten Satiremagazin. Dort wurde zurecht erkannt: „Das ist wohl mehr etwas für die Weltbühne …“ und reichte den Text entsprechend weiter. Dort brachte man ihn ohne jede Änderung. Das wurde zum Beginn einer – aber die letzten Worte aus Casablanca kennt ja nun wirklich jedes Kind.

Wir revivaln den Erstling nachfolgend und möchten Reinhard Wengierek damit danken für sein marathonhaftes, ja nachgerade fast schon methusalemisches Stand- und Durchhaltevermögen, von seinem Sprachwitz und seiner pointierten Stilsicherheit ganz zu schweigen, und wünschen uns noch viele gemeinsame Jahre mit ihm für unser Blättchen-Publikum.

Die Redaktion:

Jürgen Hauschke

Max Klein

Detlef-Diethard Pries

Wolfgang Schwarz

 

Aber nein, hier ist nicht die ,Distel‘, hier ist das Deutsche Theater … Da müssense die Reinhardtstraße vor zur Friedrichstraße, dann rechts rum und dann bis zum Bahnhof. Dort ist die ,Distel‘ in dem Haus, wos ,Metropol‘ ist, die Operette …“

Es stimmt, solche Verirrungen im nicht allzu dichten Dickicht der hauptstädtischen Theater sind ziemlich selten. Die meisten finden sich zurecht. Wer nicht zur geputzten Menge gehört (im Rupfen-Stil: „Die Insel“; im Kunstfaser-Stil: „Zwei Krawatten“), die abends ihren Weg nimmt zum gelben Haus der großen Schauspielkunst, um mehr oder minder vergnügungspotent (so oder so) Platz zu nehmen im rotseiden ausgeschlagenen gemütlichen Rund vorm Vorhang, der hat hinter nämlichem zu tun und der muß vorbei am kleinen Hin-und-her-schiebe-Fenster des Bühnenpförtners.

Seine Dienstloge ist ein Zimmerchen respektabler Größe, bei weitem mehr als die amtliche Bezeichnung Wachtposten römisch eins besagt. Sie ist eine Schlüssel-, Post-, Telefon-, Nachrichten-, Servicezentrale. Aus diesem Grunde sollten die Kollegen Pförtner das Schlüsselbrett nicht vorm, sondern im Kopf haben und gewissen Anforderungen genügen an Kombinationsfähigkeit, Gedächtnisleistung, vornehmlich personenbezogen, und nicht zuletzt an Diskretion.

Was die Arbeit in diesem Betrieb von der in anderen volkseigenen unterscheidet, abgesehen vom Gegenstand, liegt vor allem im Organisatorischen: vormittags Proben, abends Vorstellung. Allgemein und sehr vereinfachend gesagt: arbeiten die Schauspieler, trinken die Kaffee, die nicht Schauspieler sind, arbeiten die, die nicht Schauspieler sind, eilen die Schauspieler geschäftig hin zu Film und Funk und Fernsehen. Oft auch nachts. In allen Gewerken verbreitet aber ist das Umtrinken, auch oft nachts, nach der Vorstellung. Das Kommunikationsbedürfnis ist beträchtlich – intimes Erörtern, rotohriges Debattieren, albernes Rumblödeln. Zum Teil finden jene Geselligkeiten in der Kantine statt, deren ausladendes Angebot an Alkoholika (ab 21 Uhr) in ziemlichem Gegensatz steht zu dem weitaus magenfreundlicherer Dinge (Rotwurst, Sülzwurst, Mortadella, Rotwurst, Sülzwurst, Mortadella, Torte und als Höhepunkt ein saurer Fisch).

Aber, um Gerüchten und Illusionen vorzubeugen, sei grundsätzlich vermerkt: die Kommunikation beim Biere steht in keinem Verhältnis zu der auf der Bühne. Dort wird gearbeitet. Streng, schonungslos, schweißtreibend. Haben Sie schon mal einen Schauspieler nach einem großen Auftritt gesehen? Da möchten Sie schnell ein Handtuch werfen und eine Selters reichen oder einen Sessel in die Gasse schieben.

Spitze Zungen behaupten, am Theater finge der Mensch erst beim Schauspieler an. Das ist natürlich Unsinn. Schließlich gibt es hier wie überall Gewerkschaft, Konfliktkommission, Sprechstunde des Direktors, der in hiesiger Branche Intendant heißt. Es gibt sehr nette berühmte Schauspieler und mufflige, genauso wie es sehr nette Pförtner gibt und mufflige. Und der Ausbruch der Kollegin Kassenpförtner (Übergriffe in Kompetenzbereiche der Kollegin Bühnenpförtner) steht dem der Kollegin Solopersonal (gegensätzliche Meinungen im Bereich der Besetzungsfragen) an Expressivität in nichts nach.

Die Pförtner der Staatstheater arbeiten im Drei-Schicht-System, haben einen Kühlschrank, ein Radio Baujahr 1958. Sie kommen in den Genuß der sozialpolitischen Maßnahmen (40-Stunden-Woche, vier Wochen Urlaub, Ruhetag, Nachtschichtprämie sieben Mark, Zwei-markzwanzig fürs Sonntagsessen – da wird zwölfstündig gefahren), und sie bekommen als charmantes Extra der Direktion pro Monat ein Stück Seife „Kölnisch herb“. Nachts haben die Pförtner mit viel Pädagogik die Kantine zu leeren und erst dann Streife zu laufen. (Auf Rohrbrüche, nässende Toiletten, geöffnete Fenster, unverschlossene Pforten, nichtausgeschaltete Kochplatten ist zu achten!) Der Pförtner muss wissen, wer wann (möglichst noch wohin und mit wem) gegangen ist, wer welchen Schlüssel kriegt bzw. verbummelt haben könnte, wer wo im weitläufigen Gelände sich gerade aufhält (Anruf Mutter, Tochter, Freundin, Gattin, DEFA-Besetzungsbüro). Er muß wisse permanente Bewerbungen (Dramaturgie, Bühnenbild) abwimmeln, ebenso unliebsame Telefongespräche oder Wartende (falsche Bräute). Er muß wissen, wer bei Feuersbrünsten nach „112“ rasch aber ruhhig zu benachrichtigen ist und wo sich der Lageplan der Wasserzapfstellen befindet. Des Nachts hat der Pförtner besonders auf verdächtige Geräusche und Personen zu lauschen sowie bei der Revision der Räumlichkeiten sorgfältigst alle Eintragungen in die Wachbücher vorzunehmen plus korrekte Bedienung einer Kontrolluhr mit 22 Stationen. Nachts darf der Pförtner Radio hören und lesen; bevorzugt werden Romane, die nicht „langstielig“ sind. Kollegin Gerda allerdings pflegt intensiv und mit beachtlichem Geschick Topflappen (auf Wunsch mit Rosen) häkelnd herzustellen.

Das Verhältnis des Wachpersonals zu seinem Theater könnte primär als ein spontan begeistertes, sekundär als ein spontan beschimpfendes bezeichnet werden; das Verhältnis zum Einlaßbegehrenden ist entsprechend subjektiver Tagesform plus Wirkung und abgeschätzter sozialer Stellung des Kunden launisch schillernd von einfach nett über hofierend bis amtig-autoritär. Noch weitaus differenzierter ist das Verhältnis zu den im Hause aufgeführten Stücken. Die meisten haben gar keins. Kollege M. war nach dreijähriger Tätigkeit anläßlich der Vorstellung eines oft gegebenen Revuestücks das erste Mal als Nicht-im-Dienst, nämlich als Publikum erschienen. Kollege P. meint: „Wollma uns nischt vormachen. Wenn de’n janzen.Tach uff de Beene bist, willste abends nischt vonne Arbeet … Is logisch. Die Leute wolln unterhalten sein, vastehste. Und da jibts jute Dinger. Sieh mal, der Drachen. Da ist ooch Polletik drinne, is ooch’n Tendenzstück, aber wie det jemacht is …“

Als Pförtner an einem großen Theater kann man täglich interessante bis spektakuläre Persönlichkeiten sehen, und mitunter lernt man solche kenne. Zum Beispiel jenen physikdiplomierten Kleindarsteller, der sowohl als zweiter Page im „Homburg“ wie auch als Sprecher für Diskotheken und nichtkirchliche Beerdigungen agiert.

Wenn man nachts, die Streife ist gestriffen, alle Schlüssel liegen georddnet nach Nummern parat für die Putzfrauen, mal gar nichts zu tun hat, dann kann man heimlich etwas tun, was eigentlich nicht gestattet ist: Man läßt den Eisernen hochrumpeln und hat das ganze Theater für sich allein. Man kann sich als Alexander Moissi fühlen oder als Alexander Lang, der den Caliban spielt, und man kann kunstvoll, kannibalisch kreischend über die Bretter toben, die weltberühmten, und sich durchschauern lassen für Augenblicke … Aber man tut’s natürlich nicht. Schließlich muß Ordnung im Theater sein, auch mitten, auch mitten in der Nacht.

 

Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.