Während ich unschlüssig vor einem Regal voller ausrangierter Bücher stand, überraschte mich kürzlich in der stillgelegten Kureinrichtung einer mitteldeutschen Kleinstadt ein junger Mann, indem er einen Stapel weiterer Bücher heranschleppte, um sie ebenfalls dort abzulegen. Während ich zur Seite trat, um ihm Platz zu machen, fiel mir auf, dass einige dieser Bücher vollkommen neu, also noch nicht einmal aufgeblättert und daher offenbar noch ungelesen waren. Insbesondere weckte ein brandneues Buch aus dem Verlag Matthes & Seitz sofort mein Interesse. Sein Titel lautete „Geist und Müll. Von Denkweisen in postnormalen Zeiten“. Sein Autor ist der in Berlin lebende Guillaume Paoli.
Auf meine Verwunderung darüber, dass dieses hochaktuelle und erst vor wenigen Monaten auf den Markt gekommene Buch sogleich aussortiert und in diesem Regal abgelegt werden sollte, antwortete der Mann mit der Behauptung, es sei „absolut kein lesenswertes Buch“, sondern „geistiger Müll“. Diese Antwort überraschte mich dann doch, denn sie schien mehr zu sein als nur die plumpe Zurückweisung anspruchsvoller Lektüre durch einen Banausen. Vielmehr ließ schon das Wortspiel mit dem Titel des Werkes auf einen gewissen „Geist“ schließen. Auf welchen genau blieb zunächst allerdings offen. Ebenso fehlte eine schlüssige Begründung für die einer bewussten Verwerfung gleichkommende Ablage des Buches in dem schäbigen Regal, worin tatsächlich überwiegend „geistiger Müll“ lagerte.
Eine mögliche Antwort auf meine Fragen erhielt ich ein paar Tage später: Zum einen durch die Lektüre des mir überraschend zugefallenen Buches. Zum anderen durch die Ergebnisse der Europa-Wahl und der Kommunalwahlen am 9. Juni 2024 in Ostdeutschland, in Sachsen-Anhalt sowie in der Region, in der sich dieser Vorfall ereignete. Bei der Wahl zum Europäischen Parlament wurde die AfD eindeutig stärkste Partei. Im Land Sachsen-Anhalt erzielte sie 30,5 Prozent der Stimmen. Bei den Kommunalwahlen in den betreffenden Kreisen erreichte die AfD 31,4 beziehungsweise 25,9 Prozent aller abgegebenen gültigen Stimmen. Das ist sehr viel, zumal die Wahlbeteiligung mit mehr als 60 Prozent ungewöhnlich hoch war. Konfrontiert man dieses Wahlergebnis mit der Diktion und mit einigen Hauptaussagen des Buches von Guillaume Paoli, so wird verständlich, warum eine derartige Lektüre einem nicht geringen Teil der Bevölkerung in dieser Region, in Sachsen-Anhalt und in großen Teilen Ostdeutschlands geradezu als Zumutung erscheint oder eben als „geistiger Müll“.
Der Autor des Buches geht davon aus, dass sich mit dem Klimawandel in der Natur zugleich ein „intellektueller Klimawandel“ vollzieht. Deutschland aber hinkt hier etwas hinterher, indem man hierzulande immer noch wähnt, in einer stabilen, zuverlässigen Welt zu leben, einer Welt mit vier Jahreszeiten, vollen Supermarktregalen, stabilen Preisen und steigenden Einkommen, Urlaubs- und Karriereplänen, die verwirklichbar sind, grünen Wäldern und sauberen Flüssen und Seen. Ferner mit technischen Lösungen für alles, was mal nicht richtig funktioniert. Man müsse es nur anpacken. – Diese Welt aber existiert in Wirklichkeit nicht mehr. Man weiß es, will es aber nicht wahrhaben und verdrängt deshalb lieber die unschönen Tatsachen, die bedrohliche Realität, das immer deutlicher hervortretende Desaster. „Der Verstand hinkt der Wirklichkeit hinterher, und in den Zwischenraum drängen Ängste und Ersatzhandlungen“, schreibt Paoli. Auch sind die neoliberalen „Verblödungsoffensiven“, der die Menschen in Politik und Wirtschaft tagtäglich ausgesetzt sind, nicht ohne Wirkung geblieben.
Gegen die Ängste, Irritationen und Verunsicherungen helfen Beruhigungsmittel, Ablenkung, Unterhaltung, Events aller Art, Fußball, Verharmlosung, Lebenslügen, politischer Selbstbetrug. Es wird so getan, als ob die Krisen und Katastrophen „bloß behebbare Störungen eines sonst funktionierenden Systems“ seien, aber kein Versagen des Systems selbst. Das Desaster aber findet indessen statt, national wie global. Es ist auch hierzulande längst Realität geworden. Vor dem ganzen Ausmaß desselben aber versagt nicht nur die Vorstellungskraft des einzelnen Bürgers, sondern auch die der Politiker. Letztere arbeiten daher daran, die Gefahr medial zu verkleinern, der Realität auszuweichen, sie zu verdrängen und Symptome, statt deren Ursachen zu bekämpfen. Die Dimension des Desasters ist einfach „too big to grasp“. Die derart zustande kommende und von den Parteien politisch verordnete „selektive Wahrnehmung“ aber ist „Teil des Desasters“ und insofern systemimmanent. Sie verhindert die Entwicklung einer wirksamen Gegenstrategie, die vorurteilslose Analyse der Probleme und die Durchsetzung effektiver Gegenmaßnahmen. Stattdessen werden vermeintliche Lösungen propagiert und den Menschen mögliche „Alternativen“, die in Wahrheit keine sind, vorgegaukelt.
Bemerkenswert ist die Feststellung, dass das sich gegenwärtig vollziehende Desaster aus „dem Zusammenspiel von physischer Entropie (Klimaerwärmung), biologischer Entropie (Artensterben) und […] geistiger Entropie, der Veräußerung der Praxis an Automaten mit entsprechender Dissipation des Denkvermögens“, besteht. Dabei stellt der zuletzt offenbar gewordene Verzicht vieler Menschen auf eigenes, unabhängiges Denken und die Übernahme vorgefertigter Programme in Gestalt von Algorithmen, vermeintlich hilfreichen Apps und populistischen Glaubensversprechen sogenannter alternativer Politiker eine Facette dieser „geistigen Entropie“ dar. Die Ergebnisse der Wahlen in Ostdeutschland haben gezeigt, wie weit man auf diesem Wege bereits vorangekommen ist. Und auch die nächsten Wahlen werden dies wohl ein weiteres Mal bestätigen.
Leider war es mir vor dem Regal mit den ausrangierten Büchern nicht möglich gewesen, den erwähnten Verächter aktueller systemkritischer Literatur nach seinem Wahlverhalten zu fragen. Dafür hatte er es zu eilig. So schnell wie er gekommen war, stieg er wieder in seinen SUV und raste davon, mit Vollgas durch den teilweise verödeten Kurort mit seinen absterbenden Wäldern und den stillen, halb entvölkerten Siedlungen und Straßen.
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