In einer ersten Kommentierung der Ergebnisse der Wahlen zum EU-Parlament am 9. Juni 2024 hat die Berliner Zeitung einen Tag später offen betont, dass nicht nur Wahlplakate mit dem Motto „Gegen Hass und Hetze“ darauf zielten, in einer Bekenntniswahl für SPD und Grüne zu stimmen und diese nicht etwa nach den Ergebnissen ihrer verfehlten Regierungspolitik zu bewerten. Auch die „Demos gegen rechts“, die seit Januar veranstaltet wurden, hatten diesen Zweck. Das hatten wir im Blättchen bereits damals vorsichtig als Mutmaßung formuliert (Blättchen 3 und 5/24), was uns nicht allseitige Zustimmung einbrachte. Zugleich richteten sich diese Demonstrationen, wie die Berliner Zeitung erinnert, nicht nur gegen Rechtsextreme, sondern „gegen rechts“ auch im Sinne von: gegen Christdemokraten und Freie Demokraten.
Die Wähler haben dieses unehrliche Spiel jedoch durchschaut und den Spielern einen Strich durch die Rechnung gemacht. „Wir konnten alle nicht von der Demokratiebewegung seit Januar profitieren“, sagte SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley noch am Wahlabend, scheinbar naiv. Die Kampagne „gegen rechts“ schreckt offenbar die AfD-Wähler nicht mehr; die Wut auf die Ampel-Politik scheint größer und die Orientierung auf die CDU hält sich in Grenzen. Anders lassen sich die Wahlergebnisse nicht deuten. In Sachsen wie in den anderen ostdeutschen Ländern wurde die AfD stärkste Partei. Dort bekam sie 31,8 Prozent der abgegebenen Stimmen, die CDU erhielt 21,8 Prozent, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) 12,6 Prozent; die anderen blieben einstellig: SPD 6,9 Prozent, Grüne 5,9 Prozent, Linke 4,9 Prozent.
Ministerpräsident Michael Kretschmer meinte, angesichts der gestärkten AfD (Zuwachs in Sachsen gegenüber der EU-Wahl 2019 – 6,5 Prozentpunkte) seien diejenigen, die „gewarnt haben und gefordert haben, dass man sich als Bürger bekennen muss, deutlich abgestraft worden“. Das kann man nur als Wählerbeschimpfung betrachten. In Sachsen gaben 69,4 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, 7,8 Prozentpunkte mehr als vor fünf Jahren. Folglich haben sich mehr Bürger als Wähler bekannt, und sie haben so abgestimmt, wie sie es wollten. Es hat gerade keine „asymmetrische Demobilisierung“ der Wähler des politischen Gegners stattgefunden, wie etliche Politikwissenschaftler aus den letzten Wahlen Angela Merkels herausgelesen hatten, sondern eine nachzählbare Mobilisierung.
Die Wahlverlierer haben offenbare Schwierigkeiten, ihr Scheitern zu verstehen. Die sächsische Grünen-Kandidatin Anna Cavazzini erklärte: „Wir sind deutlich hinter unseren Möglichkeiten geblieben.“ Auch das ist sachlich falsch. Die Grünen sind hinter ihren großspurigen ideologischen und politischen Ansprüchen geblieben und wurden auf das real Mögliche reduziert. Nur im Berliner Innenstadtbereich und in Hamburg sieht es etwas anders aus; das aber ist bundesweit betrachtet die Ausnahme.
Auch im Bundesmaßstab ist die Wahlbeteiligung gestiegen, von 61,4 Prozent im Jahre 2019 auf 64,8 Prozent 2024, oder in absoluten Zahlen von 37,8 Millionen auf 40,1 Millionen Wähler. Der Anteil der Grünen sank von 20,5 auf 11,9 Prozent. Sie verloren fast drei Millionen Wähler im Vergleich zur vorigen Europawahl. Die SPD bekam 13,9 Prozent, 2019 waren es noch 15,8 Prozent. Sie verlor etwa 368.000 Wähler. Die beiden Ampel-Parteien zusammen verloren somit 3,3 Millionen Wähler. CDU/CSU erhielten zusammen 30 Prozent der Wählerstimmen und wurden damit zur stärksten Partei. Sie gewannen 1,1 Millionen Stimmen hinzu. Den höchsten Zuwachs erreichte die AfD, trotz aller Kandidatenprobleme. Sie gewann 2,2 Millionen Wähler hinzu. Die fünftstärkste Gruppe schickt das BSW nach Brüssel. Es erhielt aus dem Stand 2,45 Millionen Wählerstimmen und sechs Sitze im EU-Parlament (EP). Die Linkspartei dagegen verlor eine Million Stimmen und bekommt noch drei Sitze.
Die Wahlentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger sind offensichtlich weitgehend unter innerpolitischen Gesichtspunkten getroffen worden. Eigentlich jedoch ging es um die Zukunft der Europäischen Union. CDU und CSU stellen mit 29 Sitzen wohl die größte Parteien-Delegation in Brüssel. Die Europäische Volkspartei (EVP), der christlich-demokratische und konservativ-bürgerliche Parteien angehören und die die größte und älteste Parteiformation im Europäischen Parlament ist, hatte Ursula von der Leyen als Spitzenkandidatin aufgestellt und will sie für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin vorschlagen. Das Vorschlagsrecht haben jedoch die Staats- und Regierungschefs. 2019 war Manfred Weber (CSU) Spitzenkandidat der EVP. Er wurde nicht Kommissionspräsident, weil Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihn nicht wollte. Kanzlerin Merkel und Macron einigten sich damals auf von der Leyen, die zu derselben Parteifamilie gehört, aber nicht zu wählende Kandidatin war. Vor der diesjährigen EP-Wahl ging das Gerücht um, Macron würde eine zweite Amtszeit von der Leyens nicht wollen. Wie es ausgeht, wird man sehen.
In Frankreich und Italien gab es wie in Deutschland deutliche rechte Zugewinne, in Polen dagegen lag die Partei des EU-affinen Donald Tusk vor der national-konservativen PiS Jaroslaw Kaczynskis. Auch in anderen Ländern folgten die Wahlergebnisse nicht unbedingt den vorherigen Erwartungen. Die Fraktionsverhältnisse im EP müssen sich erst neu zusammenrütteln. Am Ende wird es bezüglich des Kommissionsvorsitzes einen Aushandlungsprozess nicht nur im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, sondern auch im EP geben müssen.
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