Die Verleihung des Ossietzky-Preises an die US-Historikerin und Journalistin Anne Applebaum schlägt dem Namensgeber des Preises ins Gesicht. Nach der Begründung der Jury erhält sie die Auszeichnung unter anderem, weil sie die Ukraine „von Anfang an unzweideutig“ gegen Russland unterstützt habe, sich für eine „regelbasierte Weltordnung“ einsetze und für Europa eine „friedenssichernde Sicherheitspolitik“ anmahne, indem es sich zum „Para bellum“ bekennt.
Richtig ist, dass Applebaum eine Sichtweise vertritt, die weitgehend auf der Linie der US-Regierungspolitik liegt. Sie teilt die Welt ein in das Gute (die NATO und den Westen) und das Böse (Russland), ordnet sie also nach Freund-Feind-Kategorien. Ziel der Politik Russland sei es, den „Status eines Imperiums und die Vorherrschaft über die ehemaligen Staaten der Sowjetunion und sogar des Warschauer Paktes“ zu erlangen – so in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ vom 13. Februar 2023. Einen Beweis für ihre Einschätzung legt Applebaum nicht vor. Für sie gibt es nur eine Möglichkeit, den Krieg zu beenden beziehungsweise den Frieden zu erreichen: Sieg über Russland respektive die Weiterführung des Krieges solange, bis Russland in die Knie gezwungen sei und seine Truppen zurückgezogen habe.
Die Einseitigkeit und Undifferenziertheit, mit der Applebaum ihre Ansichten vorträgt, wird von einem Gemisch von Halbwahrheiten begleitet, so etwa wenn sie behauptet, der Westen hätte sich vor dem Einmarsch der Russen geweigert, die Ukraine zu bewaffnen. Und natürlich kein Wort darüber, dass Russland angesichts der NATO-Osterweiterung und nach zwei von deutschem Boden ausgehenden Weltkriegen ein nachvollziehbares Sicherheitsinteresse hat.
Es steht außer Frage, dass Carl von Ossietzky den Auffassungen und Verdrehungen Applebaums vehement widersprochen und sich dagegen verwahrt hätte, ihn in das Schlepptau einer Kriegstreiberin par excellence zu nehmen. Indem die Jury die „fachliche Perspektive“ und „journalistische Kompetenz“ als „maßgeblich“ für „die öffentliche Auseinandersetzung mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine“ betrachtet, macht sie sich die Haltung Applebaums zu eigen und erweist sich als unfähig, dem Erbe und Geist Carl von Ossietzkys gerecht zu werden.
Statt wie Ossietzky sich mit den tieferen Ursachen des Krieges zu befassen sowie jedwede Schwarzmalerei und Legendenbildung zurückzuweisen, folgt die Jury unkritisch den Verlautbarungen einer weitgehend gleichgeschalteten Öffentlichkeit. Sie merkt nicht einmal, dass sie Ossietzky in den Dienst einer Kriegspropaganda stellt und ihm einen Stahlhelm überstülpt. Sie sieht nicht oder will nicht sehen, wie sehr sie damit einen bedeutenden Friedensstreiter in jenen Dreck zieht, für den die Soldaten auf beiden Seiten ihr Leben hingeben müssen und den Ossietzky Zeit seines Lebens bekämpft hat. Die verzerrte Wahrnehmung der Realität durch die Jury und deren „Logik“ läuft darauf hinaus, den Preis künftig Kriegsenthusiasten wie dem „Panzer-Toni“ oder der „Rheinmetall“-Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann zu verleihen.
Wie Ossietzky nach 1918 die Friedensbotschaft von Papst Benedikt XV. (Juli 1917) ausdrücklich begrüßt hat, so würde er auch heute die Appelle von Papst Franziskus II. befürworten – und nicht die den Krieg weiter anheizenden Parolen einer Anne Applebaum. Sie mag ihre Verdienste haben, in einem irgend gearteten Sinne Ossietzkys sind ihr diese allerdings nicht zuzuschreiben.
Applebaum folgt der Vorstellung, die Welt müsse nach dem Vorbild der USA und des Westens gestaltet werden. Ossietzkys aufklärerisches Bemühen ging in eine andere Richtung. Deutlich sah er voraus, dass Staaten, die bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zu anderen Nationen und Staaten wirklich solchen Regeln und Prinzipien folgen, auf Abwege geraten. Das kann nur zu neuem Elend führen und zur Neuauflage einer internationalen Chimäre, die allen Glück und Frieden verheißt, aber das genaue Gegenteil nach sich zieht. Afghanistan lässt grüßen!
Die Welt ist aus der Sicht Ossietzkys sehr vielfältig, ihre Völker haben eine völlig unterschiedliche Geschichte. Sie befinden sich auf verschiedenen Stufen der zivilisatorischen Entwicklung und folgen mannigfachen Religionen, Bräuchen, Ideologien oder Weltanschauungen. Die Vorstellung, dass für alle diese Völker ein einziges politisches System, ein einziges Wirtschaftssystem oder schließlich ein einziges Wertesystem denkbar wäre, führt in die Irre. Die sogenannte „regelbasierte Weltordnung“ ist eine Chiffre für das Streben, sich alles, was nicht in sie hineinpasst, gefügig zu machen.
Ossietzky gehörte zu jenen vorausblickenden Persönlichkeiten, denen vor Augen stand: Je früher sich die politisch Verantwortlichen in der Welt von solch schädlichen Phantasien und Überlegenheitsdünkel verabschieden, desto sicherer wird unsere Zukunft sein. Davon ist das US-zentrierte Weltbild, das Anne Applebaums uns predigt, meilenweit entfernt. Ihr einen Preis nach Carl von Ossietzky zu verleihen, heißt den Bock zum Gärtner und aus der Ehre, die Ossietzky gebührt, eine Schande machen!
Statt Konfrontationen das Wort zu reden, sollten wir uns in den Beziehungen und Auseinandersetzungen mit Russland und China stets bewusst sein, dass nicht alles nur böse Absicht ist, sondern dass auch viele Missverständnisse zwischen den beiden Welten stehen. Es gibt dabei immer auch Elemente – und oft mehr als man voraussetzt –, die sich durch Verständnis, einen höheren Appell gewinnen und beruhigen lassen. Wer aber ein Feindbild wie Applebaum vor sich herträgt und für dieses wirbt, wie kann der noch in der Lage sein, für Frieden und Verständigung einzutreten?
Anne Applebaum ist keine „Friedensstifterin“. Sie will nur das Ganze und begreift nicht, wie viel mehr sie erreichte, wenn sie auch der Gegenseite gerecht und sich selbst begrenzen würde. Wer wie sie einen Krieg bis zum „Siegfrieden“ und bitteren Ende des Gegners führen will und darüber die Opfer und Zerstörungen vergisst, hat mit Carl von Ossietzkys Engagement für den Frieden und ein rasches Ende des Mordens nichts gemein.
Die Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises der Stadt Oldenburg für Zeitgeschichte und Politik an Anne Applebaum soll am 6. Juni 2024 erfolgen. Unser Autor Helmut Donat ist seit 1996 selbst Träger des Ossietzky-Preises.
Schlagwörter: Anne Applebaum, Carl-von-Ossietzky-Preis, Frieden, Helmut Donat, Krieg, Russland