Über Friedrich Nietzsches „Wanderjahre“ ist schon einiges geschrieben worden. Das Jahrzehnt zwischen 1879 und 1889 sah den Philosophen als einen rastlos Umherreisenden. Geschuldet war dies in erster Linie seiner angegriffenen Gesundheit. Vor allem in seiner Korrespondenz finden sich schon früh zahllose Hinweise darauf, wie abhängig er von den jeweiligen äußeren Umständen war und wie ihn besonders die klimatischen Bedingungen eines Ortes beeinflussten.
So suchte er beispielsweise einen direkten Bezug zwischen seiner Krankheit und den Verhältnissen an seinem Arbeitsort herzustellen. Er kam dabei zu dem Schluss: „man stimmt überein, dass Basel eine schlechte drückende, zu Kopfleiden disponirende Luft habe“. Demgegenüber hatte er bei früheren Aufenthalten in den Schweizer Bergen bemerkt, dass ihm Höhenluft offenbar besonders zuträglich sei. „In den Alpen bin ich unbesiegbar“, gestand er seiner Bekannten Malwida von Meysenbug, „namentlich wenn ich allein bin und ich keinen andern Feind als mich selber habe.“ Was lag also näher, als sich zunächst dort nach einem möglichen Lebensort umzuschauen? Ende Juni 1879 schien Nietzsche im „Lande der Verheißung“ angekommen zu sein. In St. Moritz war er – allerdings nur scheinbar – in seinem Element, „ganz wundersam!“
Nach fast drei Monaten verließ Nietzsche die Schweiz und reiste nach Naumburg. Im Haus der Mutter suchte er Erholung von sich selbst, „Ruhe vor meinen beständigen inneren Arbeiten“. Doch die anfängliche Besserung war trügerisch. Er arbeitete zwar an einem neuen Buch, das im Dezember unter dem Titel „Der Wanderer und sein Schatten“ erschien und 1886 in die zweibändige Ausgabe von „Menschliches, Allzumenschliches“ eingehen sollte, aber schon bald klagte er wieder über Schmerzen, lag zu Bett, konnte zeitweise nicht sprechen. Sein Zustand erreichte die Grenze des Erträglichen. Am Ende des Jahres 1879 zog er Bilanz: „Es liegt eine schwere Last auf mir. Im letzten Jahre hatte ich 118 schwere Anfallstage. Schöne Statistik!“ – Wo war der Ort, der seine Leiden lindern konnte?
Schon einmal hatte ihn sein ehemaliger Student Heinrich Köselitz nach Venedig eingeladen. Als „verständiger Führer“ lockte er den Kranken. „Die Stadt“, so schrieb er Nietzsche im Oktober 1878, „ist gewiss einzig und an malerischen Motiven die reichste.“ Doch erst im Frühjahr 1880 war es so weit. Man vereinbarte, sich in Riva del Garda zu treffen, um von dort aus gemeinsam nach Venedig zu reisen …
In einer soeben erschienenen, äußerst anregend geschriebenen kleinen Studie zeichnet Renate Müller-Buck ein umfassendes Bild von Nietzsches Aufenthalten in Venedig. Durch ihre Arbeit an den Nachberichtbänden zur historisch-kritischen Ausgabe von dessen Briefwechsel bestens vertraut mit Nietzsches Korrespondenz, lässt sie neben seinen Zeitgenossen vor allem ihn selbst zu Wort kommen.
Am späten Nachmittag des 13. März 1880 trifft Nietzsche in der Lagunenstadt ein. Er bezieht zunächst ein Zimmer in der Casa Fumagalli nahe der Piazza San Marco. Heinrich Köselitz hat sich bereits um alles gekümmert. Überhaupt spielt Köselitz, dessen Wirken Müller-Buck besonders hervorhebt und würdigt, auch bei den späteren Venedig-Aufenthalten Nietzsches die wichtigste Rolle. Er, der sich als Nietzsches Eckermann auch nach dessen Tod um die Veröffentlichung seiner Werke sorgte, lebte seit 1878 in Venedig. Er hatte zunächst in Leipzig Musik studiert und später bei Nietzsche in Basel Vorlesungen besucht. Mit seinen unter dem Namen Peter Gast veröffentlichten Kompositionen war er wenig erfolgreich. Nietzsche hingegen war begeistert und lobte ihn als den „neuen Mozart“.
Unzufrieden mit dem Ambiente seiner Unterkunft, wechselt Nietzsche Ende März 1880 in den an der Fondamenta Nuove gelegenen Palazzo Berlendis. Von dort fällt sein Blick auf San Michele, die kleine Insel, auf der die Venezianer ihre letzte Ruhe finden. Das „Zimmer ist 22 Fuß hoch, die Meerluft habe ich aus erster Hand“. Schon bei seiner Ankunft spürt Nietzsche „die calmirende Wirkung des Ortes“. Und nicht nur das. Die Stadt hat auch „das beste Straßenpflaster u. Schatten wie ein Wald: dabei kein Staub. Das Wetter hell. Der Lido hat sich auch legitimirt.“ Es scheint zudem, dass Nietzsche endlich die lang gesuchte, für seine Arbeit so notwendige Abgeschiedenheit gefunden hat. In einem Notizheft findet sich dazu die Bemerkung: „100 tiefe Einsamkeiten bilden zusammen die Stadt Venedig – dies ihr Zauber. Ein Bild für die Menschen der Zukunft.“ In den engen Gassen herrscht eine Ruhe, wie am Ende der Welt. Noch Jahre später, während er an der „Genealogie der Moral“ schreibt, denkt er wehmütig an die Stille und Anonymität seines „schönsten Studirzimmers, der Piazza di San Marco, Frühling vorausgesetzt, insgleichen Vormittag, die Zeit zwischen 10 und 12.“
Obwohl Nietzsche trotz seiner anfänglichen Euphorie schon 1880 verkündet, dass Venedig „zehnmal weniger für mich paßt als Genua“, hält er sich in den Jahren 1884 bis 1887 noch vier Mal für längere Zeit dort auf. Seine wiederholte Rückkehr – insgesamt verbringt er rund neun Monate in der Stadt – hat dabei etwas geradezu Zwanghaftes. Zog ihn vielleicht die geheimnisvolle und zugleich inspirierende Doppeldeutigkeit der allgegenwärtigen Zwischenexistenz des Untergangs an? Hier die morbide Schönheit der Plätze und Paläste, dort das ausgelassene, unbeschwerte Leben der Bevölkerung, der Reiz der Décadence – diese Wagnersche Tristan-Stimmung. Einen Monat vor seinem zweiten Aufenthalt gestand er Köselitz: „Außer Capri hat im Süden Nichts mir einen solchen Eindruck gemacht, wie Ihr Venedig. Ich rechne es nicht zu Italien: irgend was vom Orient ist da hinuntergefallen.“ Wie auch immer: Venedig war für Nietzsche nur „ein andres Wort für Musik“ und es blieb für ihn der einzige Ort auf Erden, den er liebte und dem er mit seinem „Gondellied“ ein bleibendes Denkmal setzte: „An der Brücke stand / jüngst ich in brauner Nacht. …“
Neben einer eindringlichen, ins kleinste Detail gehenden biographischen Darstellung legt Renate Müller-Buck mit ihrem Buch ein äußerst facettenreiches Bild vom gesellschaftlichen Leben Venedigs Ende des 19. Jahrhunderts vor. Allein deshalb lohnt die Lektüre – selbst wenn man mit Nietzsche nicht so vertraut ist.
Renate Müller-Buck: „… zitternd vor bunter Seligkeit“. Nietzsche in Venedig. Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 199 Seiten, 26,00 Euro.
Schlagwörter: Friedrich Nietzsche, Heinrich Köselitz, Mathias Iven, Renate Müller-Buck, Schweiz, Venedig