27. Jahrgang | Nummer 11 | 20. Mai 2024

Immer wieder Walzer

von Peter Jarchow

Seit etwa 200 Jahren beherrscht er die Welt des Tanzes und die Welt der Musik. Auch gravierende Verbote kirchlicher und feudaler Behörden haben diesen Siegeslauf nicht aufhalten können.

Die Bezüge des Walzers zum Leben sind vielfältig: in der Nähe des Todes („Valse triste“ von Jean Sibelius), mit finsteren Mächten („Mephisto-Walzer“ von Franz Liszt), in aristokratischer Glorie („Kaiser-Walzer“ von Johann Strauß), bis hin zum einfachen Volk in der Stadt und auf dem Lande, das in überschwänglicher Freude schwingt und springt, auch „In Lauterbach hab ich mei Strümpf verlorn.“

Über die Herkunft des Walzers gibt es nahezu so viele Theorien wie es Tanzwissenschaftler gibt. Jeder weiß es anders und jeder weiß es besser. Die ganze Welt-Tanz-Folklore zu befragen, verbieten Raum und Zeit. Auf Europa beschränkt, käme der „Ländler“ infrage, der noch nicht den Sprung zum Sprung geschafft hat. Vielleicht hat der „Schuhplattler“, der den Männern virtuoses Können abverlangt, dazu beigetragen, Schwung und Sprung in den Tanz zu bringen.

Festzustellen ist, dass der Walzer nicht nur bei den Dorfmusikanten angekommen war, auch qualifizierte Musiker, die in feudalen oder städtischen Diensten standen, nahmen sich seiner an. Festzustellen ist weiter, dass der Walzer den Tanzboden verlassen und in den Konzertsälen und Musiksalons eine neue Heimstätte gefunden hat.

Walzer von Franz Schubert oder von Fryderyk Chopin verleugnen nicht ihre Herkunft vom Tanz, machen aber mitunter den Gebrauch zum Tanzen höchst beschwerlich. Die Tempi sind manchmal viel zu schnell, manchmal viel zu langsam oder sie stehen in einem Walzer in starkem Kontrast gegeneinander oder haben einen deutlichen dramaturgischen Zuschnitt, der eher zum Bühnentanz als zum Gesellschaftstanz oder Volkstanz tendiert.

Es geht noch weiter. Komponisten verlassen den Bezug zum Tanz nahezu vollständig und nehmen den Walzer als Vorbild für Sätze ihrer Sinfonien und Konzerte. Etwa Peter Tschaikowskis 3. Satz der Sinfonie Nr. 5 und der 2. Satz seiner Streicherserenade. Oder Hector Berlioz in seiner „Phantastische Sinfonie – Episoden aus dem Leben eines Künstlers“. Im 2. Satz begegnet der Künstler auf einem festlichen Ball seiner Geliebten.

Carl Maria von Weber zeichnet den Verlauf einer Ballszene nach, eine höfliche Bitte zum Tanz – Herr und Dame im sittsamen Gespräch und nach dem Walzer führt der Herr die Dame formvollendet wieder an ihren Platz. Alles deutlich zu hören in seiner „Aufforderung zum Tanz“. 1911 schuf zu dieser Musik Michail Fokin das legendäre Ballett „Der Geist der Rose“ mit Vaclav Nishinsky und Tamara Karsawina.

Einen Höhepunkt erlebt der Walzer in Wien. Der Wiener Walzer beherrscht die Stadt und die Welt. Johann Strauß (Vater und Sohn), Joseph Lanner und andere komponierten Walzer ohne Zahl und gaben ihnen verwegene, poetische Titel. Irrlichter – die Libelle – Frühlingsstimmenwalzer – Sinne und Minne – Wein, Weib und Gesang.

Die Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker werden in alle Welt übertragen und sind ohne Wiener Walzer undenkbar. Es ist eine alte Tradition: Die erste Zugabe ist der Walzer „An der schönen, blauen Donau“. Unter Dirigenten gilt die Leitung dieser Konzerte fast wie ein Adelstitel.

Auch Film und Theater bemächtigen sich des Walzers. „Zwei Herzen im Dreiviertel-Takt“ – eine Operette von Robert Stolz – wurde 1933 uraufgeführt, schon drei Jahre vorher gab es einen Film mit gleichem Inhalt und gleichem Titel, der zu den besten ersten Tonfilmen gerechnet wird.

Der „Rosenkavalierwalzer“ scheint populärer zu sein als die Oper „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauß. Und selbstverständlich kommen Ballett und Tanztheater ohne Walzer nicht aus. In Peter Tschaikowskis „Nussknacker“ glänzen „Walzer der Schneeflocken“, „Walzer der Blumen“ und ein grandioser Abschlusswalzer in choreographischer und virtuoser Pracht.

Auf der Tanzbühne dienen Walzer auch der Dramaturgie, der Charakterisierung der Personen. Die Puppe „Coppelia“ (Leo Delibes) kommt allmählich von eckigen Bewegungen zu fließenden menschlichen, die Walzermusik gibt diese Entwicklung vor. In „Petruschka“ (Igor Strawinsky) tanzen „der Mohr“ und die „Ballerina“ einen Walzer, der nicht so recht klappen will, der tollpatschige und unbeholfene Mohr und die oberflächliche und dumme Ballerina kommen schwer zueinander.

In „Der Grüne Tisch – ein Totentanz“ von Kurt Jooss und F. A. Cohen tanzt der Tod mit dem jungen Mädchen einen Walzer, der Tod beherrschend und das Mädchen willenlos, der Tod holt mit dem Walzer das Mädchen in sein Reich.

Die „Liebeslieder – Walzer für 4 Singstimmen und Klavier zu 4 Händen“ von Johannes Brahms sind indes zum Tanzen ungeeignet. Die Kompositionen sind dem Text (aus „Polydora“ von Georg Friedrich Daumer) verpflichtet, teils in heftiger Empörung „Nein, es nicht auszukommen mit den Leuten; alles wissen sie so giftig auszudeuten!“, teils im sanften Verlangen „Wie des Abends schöne Röte, möcht ich arme Dirne glühn.“

Und in „La Valse – Poéme choréographique” schreibt der Komponist Maurice Ravel: „Wirbelnde Wolkenschwärme lassen im Durchblicken Walzerpaare flüchtig erkennen.“ Da fällt es selbst dem Profi-Musiker nicht ganz leicht, den drei/Viertel-Takt eines Walzers herauszuhören.

Nicht alle Tänze im Dreiviertel- oder 3/4-Takt sind Walzer: die repräsentative Polonaise, die feierliche Sarabande, die rhythmisch-pointierte Mazurka, das würdevolle Menuett, der temperamentvolle Furiant, um nur einige Beispiel zu nennen.

Als Zugabe einige Kuriosa: Verbindungen mit dem Wortstamm „walz“ haben eine gänzlich andere Bedeutung. Die Dampfwalze, die alles niederwalzt – junge Männer gingen auf die Walz – umfangreiche Bücher sind dicke Wälzer. Der „Flohwalzer“, den auch Total-Musik-Ignoranten kennen, steht im Vierviertel -Takt. Wogegen der „Marsch der Davidsbündler gegen die Philister“, das Abschlussstück aus dem „Carnaval“ von Robert Schumann im Dreiviertel-Takt steht. Da kann man mal sehen.