Es ist im Jahre 2024 nicht nur historisch sinnvoll, sondern politisch zwingend, daran zu erinnern, dass vor 210 Jahren der Wiener Kongress begann. Der Kongress beendete einen europäischen Krieg, der den Kontinent länger als zwei Jahrzehnte erschüttert hatte und letztlich mit der Niederlage des aggressiven Usurpators Napoleon abschloss.
Das gute alte Europa! Alt ist es schon, aber gut war es nie, wenn man den Blick auf das Verhältnis von Krieg und Frieden richtet. Trotz aller Leistungen in Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur, die das Leben der Menschheit bereichert haben. Europa trug immer seinen Janus-Kopf durch die Geschichte. Daran hat sich nichts geändert. Sogar die Qualität der handelnden Protagonisten auf der historischen Bühne ist höchst unterschiedlich geblieben. Europa kennt in seiner langen Geschichte demzufolge auch viele Beispiele, bei denen erwählte Herrscher oder Politiker ihre egoistischen Machtansprüche hinter einem Schleier mystischer Demagogie verborgen haben. Europa kennt ebenso Exempel, in denen kühle politische Pragmatiker mystische Wortgebilde ohne Rücksicht auf erlauchte Personen zerschlagen haben. Man prüfe gewissenhaft, ob die Suche nach herausragenden Persönlichkeiten heute überhaupt noch einen Sinn besitzt, wenn das Kriterium im Visionären und dessen Realität besteht.
Ein klassisches Beispiel für die Homogenität dieser Elemente war der Konflikt zwischen Russlands Kaiser Alexander I. und dem österreichischen Minister Klemens Wenzeslaus von Metternich rund um diesen Wiener Kongress von 1814/15. Das Beispiel ist höchst interessant, weil es trotz des viel zitierten äußeren Glanzes ohne jegliches Pathos ganz pragmatische Züge demonstriert hat, wie man in den internationalen Beziehungen schier ausweglose Situationen entwirren kann. Denn das mit Russland vereinte Europa hatte zwar den Kaiser Napoleon Bonaparte besiegt und Frankreich damit eine schwere Niederlage zugefügt. Es stand nicht mehr und nicht weniger vor der Mammut-Aufgabe, Europa eine Ordnung zu geben, die der ausgerufenen Zeitenwende Rechnung trug und zugleich die alten und neuen egoistischen Besitzansprüche der Kriegsteilnehmer befriedigte.
Man kann es nicht oft genug wiederholen! Der Wiener Kongress von 1814/15 war in seiner ganzen Fragilität, in seiner Widersprüchlichkeit, eine Glanzstunde der internationalen Diplomatie. Da waren zynische Pragmatiker am Werke und keine demagogischen Ideologen, die zwar Gegner mit besserwisserischen Worten belehren konnten, aber keine Probleme lösten.
Nein, die hohe Kunst der Diplomatie bewirkte eine glänzende Lösung! Napoleons Frankreich und das vereinte Europa hatten Jahre um Jahre Krieg gegeneinander geführt. Alle europäischen Mächte waren darin involviert. Napoleon musste am Ende fallen – aber Frankreich wurde nicht aus Europa verbannt. Das war eine historische Leistung, die dem Kontinent für Jahrzehnte ein relativ stabiles politisches Gleichgewicht verlieh.
Doch an den Wurzeln ging es sehr großzügig zu! Nein, der Kongress tanzte nicht nur und es gab auch keine demonstrativen Plenarsitzungen der Teilnehmer mit herausgeputzten Erklärungen, die ohnehin nur Absichtsbekundungen gewesen wären. Selbst der legendäre Feldherr und Diplomat Fürst Charles-Joseph de Ligne starb während des Kongresses nicht durch aufreibende politische Verhandlungen, sondern weil er sich nächtens bei den hübschen Wiener Mädchen verkühlt hatte. Noch bemerkenswerter: Der notorischer Langschläfer Klemens Wenzeslaus von Metternich wurde sogar in der Nacht vom 5. auf den 6. März 1815 unsanft aus den Daunen aufgeschreckt: Kaiser Napoleon war mit unbekanntem Ziel von der Insel Elba verschwunden, wohin ihn die Siegermächte im Jahre 1814 verbannt hatten. Metternichs politischer Kopf arbeitete sofort präzise und zielgerichtet. Er wäre sich selbst untreu geworden, wenn er diese Möglichkeit nicht vorausgesehen, ja, vielleicht sogar provoziert hätte. Elba lag doch vor der eigenen Haustür und Napoleon gab sich noch lange nicht geschlagen.
Die Entscheidung, Napoleon nach Elba zu schicken, hatten die Alliierten aus hintergründigem Kalkül Russlands Kaiser Alexander I. übertragen. Er galt ihnen, solange das nützlich erschien, als der Befreier Europas und durfte an der Spitze der siegreichen Armeen in Paris einziehen. Alexander hatte seit der Vertreibung Napoleons aus Russland im Jahre 1812 nicht aufgehört, aller Welt mitzuteilen, dass sein Befreiungszug über die westlichen Grenzen Russlands hinaus lediglich dem Gebot christlicher Ethik folgte: Die Menschheit musste vom Antichristen, dem Ungeheuer, dem Usurpator Napoleon befreit werden. Alexander verschwieg diskret, dass Russlands Heere antraten, die Macht des Zaren auf dem europäischen Kontinent gegen jegliche Art nationalen, politischen oder konstitutionellen Fortschritts einzusetzen. Niemals in der Geschichte rückten die russischen Armeen weiter nach Westen vor als im Krieg gegen Napoleon!
Der christlich verhüllte Herrschaftsanspruch dieses einen Kaisers rief die Habgier der anderen gekrönten Häupter hervor. Die besaßen ihren Metternich, ihren Charles-Maurice de Talleyrand oder ihren Viscount Castlereagh – gewiefte Politiker, die den christlichsten aller missionarischen Herrscher in eine Falle lockten. Sie überredeten ihn arglistig, die Initiative zu übernehmen, Napoleon nach Elba zu schicken. Doch Alexander stellte Bedingungen, die seine Kontrahenten verärgerten. Metternich und Alexander I. entzweiten sich anschließend in der zentralen Polenfrage. Ihr Konflikt war so groß, dass sie auf dem Friedenskongress in Wien kein Wort miteinander sprachen – Österreich und Russland konnten sich nicht über den künftigen Besitz Polens einigen. Doch der kleine Korse änderte wieder einmal die Lage. Nach der Schreckensmeldung über die Abreise Napoleons von Elba eilte Metternich stehenden Fußes zu dem verhassten Zaren Alexander und teilte dem Gefoppten ebenso freundlich grinsend, wie diplomatisch verklausuliert mit: Das Ungeheuer ist im Anmarsch, das hast du nun davon, Tagträumer, du wolltest dich ja auf den Flügeln der Orthodoxie als heiliger Retter Europas aufspielen!
Doch was sollte man tun? Polen rückte erst einmal wieder in den Hintergrund. Die alliierten Truppen sattelten erneut die Pferde und schulterten die Musketen. Nur, Russlands Führungsrolle war dahin. Als der sowjetische Schauspieler und Regisseur Sergei Bondartschuk viele Jahre später den Monumentalfilm „Waterloo“ ganz im Sinne der Breshnew-Doktrin, aber mit dem Geld ehemaliger Alliierter im Kampf gegen Napoleon drehte, tauchte kein einziger Russe in dem Spektakel auf. In der Tat, Napoleon wurde bei Waterloo geschlagen, dieses Mal von den Engländern und Preußen. Beim zweiten Einmarsch der Verbündeten in Paris ritt Kaiser Alexander I. nicht mehr an der Spitze der Alliierten. In Wien musste er sich letztlich mit einem reduzierten Kongresspolen zufriedengeben. Er hatte den Sieg verspielt und flüchtete sich nur noch tiefer in seinen Wunderglauben von der erhabenen Macht christlicher Mythologie.
Darin lag die Moral der Mächtigen: Der Mythos verbrämte den realpolitischen Machtanspruch und half beim Misslingen, das eigene Gesicht zu wahren. Kaiser Alexander formulierte die Grundsätze der „Heiligen Allianz“ – eines christlichen Bündnisses europäischer Fürsten, die nur noch nach den Prinzipien der brüderlichen Nächstenliebe regieren sollten.
Abermals zogen Metternich & Co. die politischen Fäden. Sie erlaubten dem Kaiser das engelsgleiche Gewand und wendeten es im Geiste ihrer eigenen politischen Interessen zu einem restaurativen Korsett. Das war die Politik. Schlimm erscheint eigentlich nur, dass Alexander I. selbst an seine Mission vom rächenden Engel glaubte und dass dafür so viele unschuldige Menschen im Kriege sterben mussten.
Gleichwie! Bei allem Schabernack der handelnden Menschen, der Wiener Kongress bleibt ein Musterbeispiel, wie militärische Konflikte in Europa diplomatisch gelöst werden können.
Man darf nur nicht erwarten, dass die Diplomaten Tag für Tag in die Öffentlichkeit posaunen, wie böse der Kriegsgegner ist. Außerdem ist unser kleiner Erdenball inzwischen so transparent geworden, dass kaum noch eine abgelegene und einsame Insel zu finden ist.
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