Ein Gewinner des Ukraine-Krieges steht bereits fest: die kommerzielle Weltraumindustrie. Nach einer gewissen Flaute, deren sichtbarster Ausdruck die Pleite von Virgin Orbit des britischen Unternehmers Richard Branson im Frühjahr 2023 war, ging es stetig steil nach oben: Im 4. Quartal 2023 betrugen die globalen Investitionen in Weltraum-Startups 4,6 Milliarden US-Dollar, eine Steigerung um 31 Prozent zum vorangegangen Quartal.
Über der Ukraine tummelt sich nicht nur Elon Musk. Um Zugang zum Schlachtfeld der Zukunft – dem erdnahen Raum – buhlen eine ganze Reihe ambitionierter Jungunternehmen der Weltraumbranche: Etwa Capella Space, das preiswerte Niedrigorbit-Satelliten zum Aufspühren russischer Truppen bei Nacht sowie unter widrigen Wetterbedingungen anbietet, oder Fortem Technologies, das unbemannte Flugkörper zum Abfangen iranischer Shahed-Dronen fertigt, oder HawkEye 360, das Satellitenkonstellationen zum Orten von Radiofrequenzen entwickelt. Andere (Shield AI, Anduril Industries) fertigen Kleindrohnen für Langzeitüberwachungsoperationen oder offensive „Lauerdrohnen“ (AeroVironment). Radioelektronisches Störgerät zur Neutralisierung feindlicher Drohnen offeriert Dedrone, während Palantir mittels Künstlicher Intelligenz an Systemen automatischer Zielerfassung (ATR) arbeitet …
„Die russische Großinvasion in der Ukraine“, so Michael Brown, Ex-Direktor des Pentagon-Technologie-Inkubators DIU (Defense Innovation Unit), „hat das Interesse der USA an militärisch relevanten kommerziellen Technologien nachhaltig befördert.“
In der Tat kommt dem US-Verteidigungsministerium die Goldgräberstimmung in der Branche sehr entgegen: Seit ihrer Gründung 2019 sucht eines seiner zentralen Exekutivorgane in Sachen Weltraum, die US Space Force, nach einer innovativen Beschaffungsstrategie. Dabei im Wege steht ihr eine über Jahrzehnte gewachsene Beschaffungskultur, fokussiert auf eine Handvoll „bewährter“ Rüstungsgiganten, die ohne größeren Zeitdruck Vorgaben von Militärplanern für viele Milliarden Dollar abzubeiteten gewohnt sind. Die Kontrolle über die Technologien verblieb dabei mehr oder weniger vollständig in den Händen der Regierung.
Mit derartiger Behäbigkeit sei länger kein Staat zu machen; die Welt habe sich verändert: In den Weltraum strebten heute viele staatliche und nichtstaatliche Akteure. Die Regierung, so der Weltraumverantwortliche bei der DIU, Steven Butow, müsse sich daher als „Kunde“, der im kommerziellen Sektor bestimmte Technologien und Serviceleistungen einkauft, neu erfinden. Oder wie es Will Roper, Ex-Beschaffungspapst der US-Luftwaffe, unlängst ausdrückte: „Das Pentagon ist noch immer im Nur-Erfindungs-Modus des Kalten Krieges, obwohl es längst im Kollaborationsmodus sein sollte, um der Privatindustrie auf die Sprünge zu helfen.“
Während das Pentagon also daran interessiert ist, technologische Neuerungen diverser Start-ups für sich nutzbar zu machen, würden sich auch viele Tech-Jungunternehmer sehr gern eine möglichst große Scheibe vom inzwischen auf sagenhafte 886 Milliarden US-Dollar angewachsenen US-Militäretat abschneiden, denn: Privates Wagniskapital ist gut – vom Staat gefördert zu werden, aber allemal risikoärmer.
Ein entsprechendes Programm, Orbital Prime, wurde bereits 2021 aufgelegt: Über sogenannte SBIR*- und STTR**-Verträge soll Jungunternehmen in Zusammenarbeit mit akademischen und nicht gewinnorientierten Institutionen Grundlagenforschung ermöglicht werden. Allzu oft jedoch scheinen die gewährten Mittel nicht auszureichen, entsprechende Forschungen bis zur Produktionsreife zu führen.
Natürlich hat das Ganze auch eine internationale Dimension. Sowohl d Pentagon als auch Space Force zielen letztlich auf die Durchsetzung US-amerikanischer Führerschaft im Weltraum. Die einflussreiche Brookings Institution stellte dazu bereits Ende 2022 fest: „Die USA sollten Führerschaft demonstrieren, indem sie ihre Position als Pionier bei öffentlich-privaten Partnerschaften nutzt, um größere internationale Koordination und vielleicht ein gemeinsames Regelwerk für die Kontrolle von Aktivitäten im Weltraum zu fördern. Als Pionier bevorteilt, verfügen die USA über die größten Weltraumfirmen und sollten in der Lage sein, Einfluss auf ausländische Regierungen zu nehmen, die von ihr abhängen, indem sie diese gegen Gewährung amerikanischer Dienstleistungen an den amerikanischen Weltraumblock (Artemis Accords***) binden […]“.
Andere Staaten militärisch technologisch abzugreifen – diesem Ziel dienen die seit 2020 stattfindenden sogenannten „Space Engagement Talks“ (SET). Im Kern verfolgen sie mindestens zwei Ziele: den Zugriff auf regionale Navigationssysteme (Israel, Japan, Südkorea) sowie verbesserte Weltraumlagerfassung durch Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur auf der Südhalbkugel (Brasilien, Australien).
Darüber hinaus schloss das Forschungslabor der US-Luftwaffe (AFRL) im Oktober vergangenen Jahres erstmals mit zwei indischen Start-ups, 114AI und 3rdItech, sogenannte CRADs (Cooperative Research and Development Agreements) ab, im Rahmen derer beide Firmen für die US Air Force (USAF) an fortgeschritten Sensoren zur Erdbeobachtung sowie Systemen zur Weltraumlagerfassung arbeiten werden.
Unterm Strich zielt das neue Miteinander von Militär und Privatwirtschaft auf die Schaffung einer „Hybride Weltraumarchitektur“ (HSA) Aus Sicht Rogan Shimmins, des bei der DIU zuständigen HSA-Managers, bedeute dies die Integration von „kommerziellen und Regierungssatelliten“ in eine Megakonstellation, die multiple Bodenkommunikationssysteme mit diversen, sich auf verschieden Umlaufbahnen bewegende Satellitennetzwerken per Laser, Funk und anderer Kommunikationskanäle nahtlos miteinander verlinke.
Auf diesem Weg soll erreicht werden, was Shimmin als „allgegenwärtige Konnektivität“ bezeichnet. Für Satelliten bedeutet dies vor allem, dass sie mobiler und agiler werden müssen. Auch daran knobeln inzwischen US-amerikanische und internationale Start-ups: an weltraumbasierten Betankungssystemen für Satelliten (Northrop Grumman, Jeff Bezos’ Blue Origin, Astroscale Japan), automatisierten Satellitenwartungstechnologien (Sierra Space), verbesserter „Rendezvous“-Fähigkeit von Satelliten (Sierra Space) sowie an Technologien zur Neutralisierung von Weltraumschrott (Astroscale).
Die Forderung nach größerer Agilität ergebe sich nach Meinung der US Space Force aus der Notwendigkeit, schneller als bisher auf komplexe Bedrohungen reagieren zu müssen. Programme wie Victus Haze, die Startzeiten für Satelliten spürbar verringerten, seien, so Oberst MacKenzie Birchenough, für „die Bedrohungsanalyse sowie unsere Fähigkeit, im Weltall auch weiterhin frei manövrieren zu können,“ unerlässlich.
Doch längst nicht alle stimmen freudig in das neue Mantra einer kommerzialisierten Sicherheitspolitik ein: „Regierungschefs“, rät Amritha Jayanti vom Belfer Center für Wissenschaft und Internationale Beziehungen der Harvard Kennedy School, „sollten mit aufstrebenden Technologie-Unternehmen enge öffentlich-private Beziehungen pflegen, gleichzeitig jedoch Koordinierungspläne auf den Weg bringen, die sicherstellen, dass kommerzielle Technologien in Konfliktgebieten und Krisenherden verantwortungsvoll eingesetzt werden.“ Und warnt, dass „die Anreize, Arbeitsweisen und Mechanismen der Rechenschaftspflicht für den privaten Sektor nicht identisch mit denen des öffentlichen Sektors sind,“ wie der Fall Starlink mehr als deutlich gemacht habe.
In der Tat hat SpaceX-Chef Elon Musk mit dem wiederholten Abschalten seines Starlink-Satellitennetzwerks während des Ukraine-Kriegs nicht nur in Kiew für helle Aufregung gesorgt. Seine seit mindestens 2018 gepflegten intensiven Beziehungen, zunächst zur US-Luftwaffe, später auch zur US Space Force, haben darunter allerdings offenbar nicht gelitten. Mit der Schaffung von Starshield, einer militärischen Version von Starlink, die wie ihr ziviler Zwilling im Übrigen weit mehr bietet als bloße Satellitenkommunikation, dürfte sich Musk endgültig als Sternenkrieger etabliert haben. Gegenwärtig errichtet er für den US-Militärgeheimdienst NRO ein Netzwerk aus hunderten Spionagesatelliten und unterstützt die USAF bei der Auskundschaftung der Arktis. Gleichzeitig hilft er Südkorea beim Aufbau eines eigenen weltraumgestützten Nachrichtendienstes, während die japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte seit März 2023 prüfen, ob auch sie Musks Satellitenservice in Anspruch nehmen wollen.
Spätestens seit dem als Erfolg verbuchten dritten Testflug der Starship/Superheavy im März dieses Jahres scheint die Marktführerschaft von SpaceX bei kommerziellen Raketenstarts in der westlichen Welt endgültig zementiert zu sein. Zwar hat ULAs (United Launch Alliance) Vulcan Centauer ihren Jungfernflug inzwischen absolviert. Blue Origins New Glenn will aber nach wie vor nicht so richtig abheben, und auch die Ariane 6 der ESA scheint ein Sorgenkind zu bleiben.
Doch gegen Musks faktisches Weltraummonopol regt sich zarter Widerstand. So hat die Space Force unlängst angekündigt, für Schwerlastraketenstarts künftig auf mehr als zwei Anbieter setzen zu wollen. Und auch Verweise auf ein kommendes „multiorbitales Zeitalter“, auf die „Notwendigkeit multiorbitaler Dienstleistungen“ können durchaus als indirekte Kritik an Starlinks ausufernder Okkupation des niedrigorbitalen Weltraums verstanden werden.
*- SBIR: Small Business Innovation Research.
** – SBTT: Small Business Technology Transfer.
*** – Artemis Accords: nicht bindende bilaterale Vereinbarungen zwischen den USA und 37 weiteren Staaten sowie der Isle of Man (Stand: April 2024) zwecks gemeinsamer Erforschung des Weltraums.
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