Es ist ein Paradox: Die AfD hat ein Programm, das Reiche stark begünstigt und für die große Mehrheit der Menschen, die sie wählen, schlimme Auswirkungen hätte. Es fordert die Streichung von Sozialleistungen, die Abschaffung des Mieterschutzes, Steuersenkungen für Reiche und Großkonzerne wie die Abschaffung der Erbschaftssteuer und des Solidaritätszuschlags. Noch absurder ist, dass die AfD den Bauern die Hälfte ihres Einkommens nehmen will – durch Streichung der EU-Subventionen. Sie will eine Abschottung Deutschlands von der EU und vom Weltmarkt und würde damit Millionen von Arbeitsplätzen zerstören. Auch will sie ausgerechnet den neuen Bundesländern, wo sie am meisten gewählt wird, die Einnahmen radikal kürzen, indem der Länderfinanzausgleich reduziert werden soll.
Daher ist es verwunderlich, dass Menschen mit geringeren Einkommen und aus den neuen Bundesländern deutlich überproportional AfD wählen. Wer etwas daran ändern will, muss also verstehen, was die Ursachen sind.
Erklärt wird das oft mit der Einwanderung. Tatsächlich neigen Menschen in kritischen Zeiten zu Revierverhalten – zur Ablehnung von Fremden. Doch die Wahl rechtschauvinistischer Politiker und die Ausgrenzung von Minderheiten findet weltweit statt – in Indien und Argentinien, in Russland und Ungarn, in Polen und Italien. Die meisten davon sind Staaten, aus denen Menschen eher wegziehen als dorthin einzuwandern. Migranten sind also nicht Ursache, wohl aber eine Projektionsfläche für die Fremdenfeindlichkeit. Das bedeutet aber: Weniger Einwanderung löst das Problem nicht.
Wo aber liegen die Ursachen? Viele Menschen glauben, dass es bergab geht. Sie wählen die AfD nicht, weil sie Protest ausdrücken wollen. Sie wählen sie trotz ihrer Verfassungsfeindlichkeit, trotz ihrer Menschenverachtung, trotz ihres unsinnigen Programms. Der Grund ist die Wut im Bauch: Wut auf die Intellektuellen, die Grünen, die Besserwisser, die Woken … Aber woher kommt diese Wut?
Tatsächlich stehen wir vor der größten Veränderung unserer Gesellschaft seit der Industrialisierung. 250 Jahre war unser Leitbild das „Wachstum“, das Versprechen, dass es wenigstens den Kindern besser gehen werde. Und das stimmte so auch. Ein Sozialhilfeempfänger hat heute mehr Komfort und Wärme in der Wohnung als der König von Frankreich zur Zeit der französischen Revolution.
Doch so geht es nicht weiter. Der Planet ist endlich. Wir befinden uns im Übergang von einer Wachstums- zu einer Gleichgewichtsgesellschaft. Das muss nicht schlimm sein. Aber solche Übergänge sind mit erheblichen Verwerfungen verbunden: Die Weltfinanzkrise und die Euro-Krise, der Klimawandel, die Corona-Krise, schließlich noch der Ukraine-Krieg. Kaum ein Mensch glaubt heute noch, dass es den Kindern besser gehen wird als uns. Die Wut im Bauch wächst.
Und das Vertrauen in die Demokratie nimmt ab. Nach einer Umfrage des NDR im Oktober 2023 sind nur noch 54 Prozent der Bürger damit zufrieden, wie in Deutschland die Demokratie funktioniert – in Mecklenburg-Vorpommern nur noch 32 Prozent. Schaut man aber genauer hin, dann hängt die Antwort vor allem von der sozialen Lage der Menschen ab. Denn von den Gutverdienern sind zwei Drittel mit der Demokratie zufrieden. Bei den Geringverdienern finden dagegen zwei Drittel, dass die Demokratie nicht gut funktioniert. Das ist ein extrem signifikanter Unterschied. Wohlhabende finden Demokratie gut, Arme zweifeln an ihr.
Der Soziologe Andreas Reckwitz analysiert, dass die Mittelstandsgesellschaft der Nachkriegszeit auseinandergebrochen ist: Eine neue Klassengesellschaft sei entstanden. Reckwitz identifiziert darin vier Klassen: Die neue Mittelklasse der Akademiker, die mittlerweile 30 Prozent der Bevölkerung umfasst. Die alte Mittelklasse der Bürger mit Berufsausbildung – Facharbeiter, Handwerker, Bauern und Angestellte. Sie haben die Bundesrepublik und auch die DDR nach dem Krieg aufgebaut. Drittens die prekäre Klasse, die aus häufig arbeitslosen Gelegenheitsarbeitern und der Service-Klasse besteht – Paketzustellern, Sicherheitsdiensten, Reinigungsdiensten … Und schließlich das eine Prozent, die Oberklasse, bestehend aus den Reichen und der neuen Nadelspitze obendrauf, der Liga der hyperreichen Milliardäre.
Entscheidend für die Verwerfungen der Politik ist aber, dass die Akademiker, die neue Mittelklasse, die Politik dominieren – auch in den früheren Arbeiterparteien wie der Linken und der SPD. Nicht nur im Parlament, auch in den Medien, den Verbänden und sogar in den Bürgerinitiativen dominieren Akademiker – übrigens auch in der AfD. In den Betrieben wird man ohne Hochschulabschluss kaum noch Gruppenleiter, während früher kompetenten Facharbeitern der Weg über den Meister, den Hallenmeister bis ins mittlere Management offenstand.
Der US-amerikanische Philosoph Michael J. Sandel hat das Phänomen Trump damit erklärt, dass die Demokraten den Menschen weismachen wollten, mehr Bildung sei die Lösung der neuen sozialen Probleme. Barack Obama fuhr von Hochschule zu Hochschule und predigte, dass jeder nur fleißig studieren müsse, um eine Chance zu haben. hat. Im Ergebnis führte das aber in einen gnadenlosen Wettbewerb um Qualifikationen. Und die zwei Drittel, die keinen Hochschulabschluss haben, fühlen sich abgewertet und abgehängt. Wer in Deutschland nicht aufs Gymnasium kommt, ist schon mit 10 Jahren ein Mensch zweiter Klasse. Das erklärt, warum die intellektuellenfeindlichen Ausfälle Donald Trumps so gut ankommen. Warum viele Menschen den „Experten“ im Fernsehen nicht mehr glauben. Warum ein Bauer neulich sagte, schlimmer als die Grünen seien die studierten Ökobauern. Warum Verschwörungstheorien geglaubt werden.
Was folgt daraus? Wir werden die Menschen nur zurückgewinnen, wenn wir sie ernst nehmen. Arbeiter, Bauern, Pflegekräfte und Erzieherinnen, Postboten und Reinigungskräfte sind tragende Säulen unserer Gesellschaft. Sie brauchen die materielle und ideelle Anerkennung, die sie verdienen. Sie müssen mehr gehört werden. Und wir brauchen mehr Gerechtigkeit!
Insbesondere müssen wir aus dem Krisenmodus herauskommen. Eine Regierung, die erfolgreich sein will, muss eine positive Vision malen. Die Politik, aber auch die Nichtregierungsorganisationen, die Klimabewegung und schließlich die Medien müssen aufhören, Zukunftspessimismus zu verbreiten, und stattdessen Wege zu einem gemeinsamen solidarischen Zusammenleben propagieren. Wir können den Klimawandel stoppen, wir können die Ungleichheit abbauen. Zugleich muss alles getan werden, um die Einwanderung gut zu managen. Die „Neuen“ müssen so schnell wie möglich Deutsch lernen und Arbeit aufnehmen. Und wir brauchen ausreichend günstige Wohnungen – und zwar für alle!
Aber die wichtigste Botschaft lautet: Auch ohne Wachstum von Bevölkerung und Ressourcenverbrauch können wir die Lebensqualität durch unseren Erfindungsreichtum steigern. Dazu müssen wir unsere Arme unterhaken und die Herausforderungen gemeinsam in Angriff nehmen.
Karl-Martin Hentschel (Jahrgang 1950), Diplom-Mathematiker, war zwischen 2000 und 2009 Fraktionsvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein, seit 2014 ist er Mitglied im Bundesvorstand des Vereins Mehr Demokratie e. V.
Schlagwörter: AfD, Demokratie, Einwanderung, Karl-Martin Hentschel, Klimabewegung, Soziologie, Wachstum