Mit China zusammen ist es einfacher, globale Probleme zu lösen.“ Ein Fazit am Ende des Beitrages „Partner oder Rivalen? Der deutsche Umgang mit China“ von Genia Kostka im Blättchen 2/2023. Über ein Jahr ist vergangen und Deutschland entfernt sich kontinuierlich von China – aber nicht auf allen Ebenen.
Es gab da ein kleines Archiv, mit 32.079 Ordnern und Archivkisten die größte Presseartikelsammlung zur deutsch-deutschen Geschichte von 1945 bis 1992. Drei Jahrzehnte war es dem Berlin-Brandenburger Bildungswerk e.V. gelungen, diese 27,5 Millionen Presseartikel ost- und westdeutscher Medien als Zeitgeschichtliches Archiv (ZGA) zu bewahren. Darunter auch die Sammlungen des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte, später des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) zu den Besatzungszonen, der BRD, der DDR, Ost- und Westberlin sowie schließlich zum Transformationsprozess. (Wolfgang Schwarz beschrieb das IPW im Blättchen vom 1. Juli 2013). Dazu noch vier Meter hoch, auf 70 Quadratmetern gebundene Zeitungsjahrgänge plus Vor- und Nachlässe von Presseartikelspezialsammlungen.
2020 war der Untergang unseres gemeinnützigen Vereins nicht mehr aufzuhalten. Die Bundesrepublik hatte sich weiterentwickelt. Die Suche nach einem neuen Träger für dieses deutsche Kulturgut begann. „Aus der Analyse heraus ist uns sehr deutlich geworden, welchen Wert in Ihrer Sammlung steckt und wie wichtig insbesondere Erschließungsinformationen sind. Es ist uns wichtig, die Sicherung des hohen wissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Quellenwertes des Archivs zu unterstützen“, schrieb der Ständige Vertreter des Generaldirektors der Staatsbibliothek zu Berlin, sah sein Haus aber wegen bevorstehender Generalsanierung sowie mangelnder Raumreserven zur Übernahme außerstande. Er setzte sich für das ZGA im Bundesarchiv bei dessen Präsidenten ein. Von dort hörten wir: „… das Bundesarchiv hat sich die Informationen zum Zeitgeschichtlichen Archiv gründlich angesehen und ist zu dem Schluss gekommen, dass ihm eine Übernahme aus räumlichen und arbeitskapazitativen Gründen nicht möglich ist. Die Kollegen betonen die Relevanz des Bestandes, sehen aber gleichwohl keine Möglichkeit.“ Und der Staatsministerin, Frau Roth, fiel auch nichts mehr ein. „Nach Sichtung und Prüfung der von Ihnen zugeleiteten Unterlagen müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass eine Übernahme dieses zeithistorisch hoch spannenden Bestandes für uns nicht in Betrachtung kommt“, wurde im Auftrage des Stiftungspräsidenten des Hauses der Geschichte in Bonn mitgeteilt und ausführlich begründet.
Das Jahr 2022 war geprägt durch erfolglose Ausweitung der Suche nach einem neuen Träger unter einschlägigen Stiftungen, Universitäts- und Landesbibliotheken. Am 8. März 2023 folgte der allerletzte Versuch, das ZGA in der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten: Auch das in Halle an der Saale geplante „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ erteilte uns jedoch eine klare Absage.
Wir suchten nicht viel und waren gefasst, weniger zu finden; jedoch fanden wir keinerlei neuen Träger der Sammlungen, die bei uns von einem großen Publikum jahrzehntelang rege genutzt wurden, die auch Ausgangspunkt zeitgeschichtlicher Projekte, Tagungen, selbst Kunstausstellungen waren. Studenten kamen jeden Tag, Schülerklassen, Zeitzeugen. Das Archiv verfügte über ein Online-Artikelbestellsystem, eine Artikeldatenbank mit inzwischen über 1,9 Millionen inhaltstief erfassten Dokumenten im Internet, minutenschnell auffindbar. Unser 700 Quadratmeter großer Archivraum war Rechercheort für jedermann und eine lebendige Produktionsstätte zugleich, während herkömmliche Archive und Bibliotheken gern beim Notwendigsten blieben.
Eine Mail an Frau Wang Juan am 22. März 2023 um 6 Uhr in der Frühe brachte die Wendung. Frau Wang hatte im Jahr zuvor unseren Archivtag besucht, sie arbeitete damals im chinesischen Kulturzentrum und war begeistert vom ZGA. Die Mail erreichte sie, als mit der Vernichtung eines Teils des ZGA, nämlich der Artikel ost- und westdeutscher Journalisten über die Länder der Welt, bereits begonnen werden musste. Noch am selben Tag um 16 Uhr antwortete sie – und ein Sturm der Hilfsbereitschaft brach los! Frau Wang hatte die Nachricht von der drohenden Vernichtung des Archivs nebst Kontaktdaten in WeChat, dem in der Volksrepublik üblichen Messenger-Dienst, veröffentlicht. Hunderte Mails und Telefonanrufe aus China, den USA, Westeuropa, Neuseeland, Taiwan, dazu WhatsApp-Anfragen in Deutschland lebender Chinesen –Schüler, Studenten vor allem – folgten in den nächsten Tagen und Wochen. Zugleich meldeten sich Wissenschaftler chinesischer Universitäten, Germanisten zuvorderst, die Pekinger Nationalbibliothek, die Nachrichtenagentur Xinhua, Korrespondenten des China News Service, chinesische Zeitungen; kurz: Es war überwältigend, diese solidarische Welt betreten zu haben. Es waren Übernahmeabsichtserklärungen und Anfragen danach, wie geholfen werden könne. Auffällig war die Breite der Fachrichtungen chinesischer Interessenten: Es waren Germanisten, Sinologen, Historiker, Kulturgeschichtler, Literaturwissenschaftler, interkulturelle Kommunikationswissenschaftler, oft spezialisiert auf Deutschlandstudien, Museologen, Archivwissenschaftler, Politik- und Rechtswissenschaftler, Kunstgeschichtler, Digitalgeisteswissenschaftler, Forscher der Medienphilosophie und der Geschichte des Journalismus.
Unter den Universitäten und Bibliotheken war die Shanghai International Studies University am schnellsten. Am 23. März 2023, 24 Stunden nach der WeChat-Nachricht von Frau Wang, kam eine Mail, in der das Interesse der Universität bekundet wurde, abends dann die Zusage: „In meinen Augen ist Ihr Archiv eine wahre Fundgrube bzw. Schatztruhe, aus der die zeitgeschichtliche Forschung unendlich profitieren kann. […] Eine kleine Bitte habe ich noch: Könnten Sie die Teilvernichtung ein wenig aufschieben? Ich brauche nämlich ein wenig Zeit“, schrieb Professor Hu.
Besonders glücklich mit diesem Ausgang bin ich nicht. Vermutlich ist mit einem Zugriff auf die nun in der Volksrepublik China beheimateten unikalen Sammlungen durch das deutsche Fachpublikum und andere Interessenten unter den hiesigen politischen Verhältnissen kaum zu rechnen. Der Spiegel brachte seinen Lesern am 29. Juni 2023, als unsere Sammlungen bereits ihren Weg auf hoher See nahmen, die diesbezügliche Ampelpolitik nahe: „Chinesische Einflussnahme an deutschen Hochschulen durch die Konfuzius-Institute will die Bundesregierung nun eindämmen. Der ,direkten Einflussnahme‘ Chinas auf Wissenschaft und Lehre müssten ,klare Grenzen‘ gesetzt werden, sagte Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) dem Handelsblatt. Die FDP-Politikerin drängte die unabhängigen Universitäten zu einem Ende der Zusammenarbeit. […] ,Im Bereich von Bildung und Forschung drohen Chinas Aktivitäten und Kooperationsformate die akademische Freiheit zu unterminieren‘, heißt es in dem Bericht. Deutsche Sicherheitsbehörden warnen vor zunehmender Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage durch China.“
Warten wir die Zukunft ab! Mit dem Wiederaufbau der archivalisch hervorragend aufgearbeiteten Presseartikelsammlungen deutsch-deutscher Geschichte von 1945 bis 1992 sind die Voraussetzungen für ihre Überführung in das digitale Zeitalter geschaffen und mit dem Umbau der Welt werden international neue Bedingungen entstehen. Das ZGA (zga-berlin.de) war mit seinen Sammlungen zur Nachkriegsgeschichte der beiden deutschen Staaten, ihre gegenseitigen Verhältnisse und internationalen Bindungen, ihren Alltag, Kultur, Wissenschaft und Politik inklusive des Anschlussprozesses Ostdeutschlands einzigartig in der Bundesrepublik.
Harald Wachowitz war geschäftsführender Vorstand des Berlin-Brandenburger Bildungswerkes e.V., ist Philosoph und lebt in Brandenburg.
Schlagwörter: Berlin-Brandenburger Bildungswerk, China, Harald Wachowitz, Presse, Zeitgeschichtliches Archiv (ZGA)