26. Jahrgang | Nummer 2 | 16. Januar 2023

Partner oder Rivalen? Der deutsche Umgang mit China

von Genia Kostka

Vor nicht einmal 10 Jahren wurde in Brüssel die „EU-China 2020 Strategic Agenda for Cooperation“ unterzeichnet, eine Vereinbarung, die darauf zielte, die Zusammenarbeit zwischen China und der EU in den Bereichen Frieden und Sicherheit und Nachhaltige Entwicklung zu verbessern. Die Zeiten haben sich seitdem drastisch geändert. Erste Entwürfe der neuen China-Strategie 2023 aus dem Auswärtigen Amt und dem Wirtschaftsministerium sind bereits durchgesickert. Aus den Entwürfen wird klar, dass es in der neuen China-Strategie der Bundesregierung um eine werteoriente Außenpolitik mit Fokus auf Diversifizierung der Wirtschaft, Einhaltung der Menschenrechte und eine nationale Sicherheitspolitik gehen wird. Wo ursprünglich China als Partner und Wettbewerber wahrgenommen wurde, wird immer deutlicher betont, dass China ein systemischer Rivale sei, dessen Werte nicht mit dem „klaren Wertekompass“ Europas vereinbar sind. So erklärte Annalena Baerbock in einem Interview Anfang Januar 2023, dass Deutschlands Wirtschaft sich schnell von China differenzieren müsse, da man mit Russland ja gerade erlebt hätte, „was passieren kann, wenn wir uns massiv von einem Land abhängig machen, das unsere Werte nicht teilt, das als autokratisches Regime im Wettbewerb zu unserer Demokratie steht.”

Die verschiedenen Entwürfe der neuen China-Strategie machen deutlich, wie schwer sich die Bundesregierung damit tut, einen fokussierten und realistischen Umgang mit China in einer global vernetzten Welt zu finden. So kritisiert Eberhard Sandschneider, ehemaliger Chef der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, im Tagesspiegel, dass sich die Außenministerin und der Wirtschaftsminister einen Überbietungswettkampf der Kritik an China leisten, um innenpolitisch davon zu profitieren. Die geplante Berichtspflicht für deutsche Unternehmen aus dem China-Strategie Papier des Wirtschaftsministeriums bezeichnet Sandschneider als „weltfremd”. Darüber hinaus bemängelt er fehlende China-Kompetenz bei den Autoren des Wirtschaftsministeriums, da sie sich mit ihrem Vorschlag „gegen die gesamte deutsche Wirtschaft” stellen würden. Insgesamt bezeichnete er das Vorgehen beider Minister als „ideologisch getriebene, inkompetente Chinapolitik”.

Natürlich sollte Deutschland sich von keinem Land massiv abhängig machen, eine wirtschaftliche Diversifizierung gehört zum normalen Risikomanagement. Zahlen des Instituts der Deutschen Wirtschaft zeigen allerdings, dass der Trend in die andere Richtung geht. Die deutsche Abhängigkeit von China steigt seit Jahren stetig. Deutsche Direktinvestitionen nach China waren im ersten Halbjahr 2022 auf einem Rekordniveau in Höhe von 10 Milliarden Euro. Dieser Wert übersteigt sowohl den bisher höchsten Halbjahreswert von 6,2 Milliarden als auch die jeweiligen Jahreswerte aller Jahre seit 2000. Besonders bei vielen großen DAX-Unternehmen ist die Abhängigkeit vom China-Geschäft groß: So verkauft Volkswagen fast 40 Prozent seiner Autos in China. Die großen DAX-Unternehmen stehen deshalb in der Kritik, durch ihr starkes Engagement in China ihre Abhängigkeiten zu vergrößern und sich politisch erpressbar zu machen. Trotz gestiegener politischer Risiken scheinen die Profitaussichten für deutsche Unternehmen in China jedoch zu attraktiv zu sein, als dass sie Expansionsaktivitäten und Investitionen drosseln würden.

Die deutsche Wirtschaft ist darüber hinaus stark abhängig von chinesischen Rohstoffen. Besondere Abhängigkeiten ergeben sich bei Seltenen Erden, bei Rohstoffen wie Magnesium oder Bauxit sowie bei Solarmodulen. In diesen Bereichen hat sich China in den letzten Jahren ein Quasi-Monopol erarbeitet. Die deutschen Abhängigkeiten haben sich über Jahrzehnte aufgebaut und können nicht über Nacht abgebaut werden. Die deutschen Konsumenten konnten über Jahrzehnte hinweg billige Konsumgüter und Rohstoffe aus China nutzen – um Abhängigkeiten zu reduzieren, müssen alternative Produktionsmethoden entwickelt werden, die Konsumgüterpreise würden steigen. Auch Außenministerin Baerbock ist folglich realistisch und betont im Interview mit Berlin.Table, dass sich Deutschland in einer globalen und vernetzten Welt eben doch nicht von China abkoppeln kann. Das heißt, laut Baerbock ist die Chinastrategie keine Entkopplungsstrategie.

Und natürlich ist es auch wichtig, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Hier ist ein harscherer Ton gegenüber der chinesischen Regierung zu begrüßen. Bundeskanzler Scholz erklärte bei seinem Antrittsbesuch in China: „Hier bestehen ernsthafte Differenzen zwischen unseren Ländern.“ Solche direkten Äußerungen sind richtig und hätten auch schon früher kommen können.

Was aber insgesamt fehlt, ist eine Vision der Bundesregierung, wie sie sich eine internationale Ordnung vorstellt und welche Rolle genau Deutschland haben kann und soll. Die bisherigen Entwürfe der China-Strategien, auch die Äußerungen von Annalena Baerbock, zeichnen eher ein statisches Bild der Welt. Es scheint, als wolle man eher Journalisten und kritische Bevölkerung beruhigen, bei denen ein negatives Chinabild überwiegt.

Was also tun? Einerseits sollte versucht werden, China in die Weltgemeinschaft zu integrieren, damit es sich nicht vom internationalen Recht und fairem Wettbewerb entfernt. Andererseits: Zu erwarten, dass sich China den demokratischen Werten annähert, ist naiv. Deswegen ist die werteoriente Außenpolitik der Bundesregierung problematisch. Effektive Außenpolitik zeichnet sich durch die Anerkennung unterschiedlicher Interessen aus. Auf dieser Grundlage lassen sich Lösungen aushandeln und Regeln festlegen. Deutschland sollte sich auf eine interessenorientierte Außenpolitik besinnen und dabei seine eigenen Interessen, wie auch Werte, klar und selbstbewusst kommunizieren.

Wie sieht dann die neue Weltordnung aus? Im Zuge des Krieges in der Ukraine verstärken sich die Narrative einer Blockbildung und einer Spaltung der Welt in Demokratien und Autokratien. Eine Blockbildung lässt sich beispielsweise am Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen ablesen. Dem sogenannten Westen lassen sich 35 der 193 UNO-Mitgliedsstaaten zurechnen, hauptsächlich NATO-Staaten sowie Japan und Australien. Jedoch machen diese Staaten insgesamt nur 14 Prozent der Weltbevölkerung aus. Der UN-Resolution zum Ukraine-Krieg haben zwar 141 Nationen zugestimmt, sie repräsentieren allerdings lediglich 43 Prozent der Weltbevölkerung. Auch bei der Verhängung von Sanktionen gegen Russland zeigt sich eine deutliche Blockbildung. Während die Industrienationen einheitlich Sanktionen gegen Russland verhängt haben, haben sich China und die BRICS-Staaten sowie Argentinien, Indonesien und die Türkei nicht daran beteiligt. China treibt die Blockbildung und die Etablierung eines „alternativen politischen und wirtschaftlichen Machtzentrums als ‚Gegengewicht‘ zum Westen“ mit seiner Initiative voran, den Kreis der BRICS-Staaten zu erweitern. Die Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien, Argentinien oder Indonesien gelten als mögliche Beitrittskandidaten.

An sich gilt es, eine so polarisierte Welt zu vermeiden und wieder zu einer Ordnung zurückzukehren, die auf internationalem Recht aufbaut. Olaf Scholz sagte vor seinem Antrittsbesuch in China mit Blick auf die Geschichte und die Teilung Deutschlands während des Kalten Krieges, dass Deutschland „kein Interesse an einer neuen Blockbildung hat“.

Zum einen fürchten Unternehmen, dass China Technologien stärker regulieren und den Marktzugang erschweren könnte. Die deutsche Autoindustrie könnte von erschwertem Zugang zum chinesischen Markt betroffen sein. Konkret waren bisher vor allem US-amerikanische Unternehmen im Zuge des Handelskonflikts zwischen den USA und China von Restriktionen betroffen. Beispielsweise wurde dem Logistikkonzern Fedex der Zugang zu manchen Teilen der chinesischen Wirtschaft verwehrt. Außerdem soll innerhalb der nächsten zwei Jahre die Computersoftware der öffentlichen Verwaltung und der Staatsbetriebe durch heimische oder Open-Source-Alternativen ersetzt werden. Auch die Hardware soll nur noch von chinesischen Unternehmen wie Lenovo geliefert werden, wobei Bauteile wie Mikroprozessoren und Chips vorerst weiterhin von US-Herstellern sein dürfen.

Zum anderen verhindert eine Blockbildung, dass die Ziele bei globalen Herausforderungen wie dem Umweltschutz oder der globalen Migration erreicht werden. Rolf Langhammer vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel schreibt, dass für die Umsetzung der Ziele Kooperation zwischen den Blöcken unerlässlich sei. Sollte der westliche Block wichtige Ressourcen, die die Gegenseite benötigt, blockieren, werden diese Staaten versuchen, mit Hilfe ressourcenintensiverer Alternativen ihren Wohlstand zu erhöhen oder möglicherweise daran scheitern, den Wohlstand für die eigene Bevölkerung zu steigern. Beide Szenarien sind für den westlichen Block sowohl in ökologischer als auch in ökonomischer Sicht mit negativen Folgen verbunden. Darüber hinaus warnt Rolf Langhammer davor, dem jeweils anderen Block seine eigenen Werte aufdrücken zu wollen. Dies sei „kontraproduktiv”, da sich durch ein solches Verhalten die Widerstände erhöhen und die Blockbildung verstärkt wird, ohne Konfrontationen verhindern zu können.

Wie soll man also mit China umgehen? Zum einen sollte man China nicht überschätzen, da dessen Regierung im Inland viele politische und wirtschaftliche Herausforderungen zu bewältigen hat. Erstens, scheint es innerhalb der Regierung politische Auseinandersetzungen zu geben. Beispielsweise hat Xi Jinping auf dem 20. Parteikongress ausschließlich treue Anhänger in Führungspositionen installiert und damit die politische Konkurrenz innerhalb der Partei übergangen und zum Schweigen gebracht. Darüber hinaus gab es Proteste der Bevölkerung gegen die Corona-Maßnahmen, bei denen teilweise sogar der Rücktritt Xis gefordert wurde, was eine Seltenheit in China ist. Und schließlich gab es eine 180-Grad-Wende: den Verzicht auf Xis „Null-Covid-Politik“. Zweitens gibt es große wirtschaftliche Probleme im Lande. Was die Einkommen der Bevölkerung angeht, kann man regelrecht von „zwei Chinas“ sprechen. China lässt sich einkommenstechnisch in eine reiche Küste mit über 300 Millionen Einwohnern und das Inland mit rund einer Milliarden Einwohnern einteilen. Zwischen der Küste und dem Inland herrscht ein großer Einkommensunterschied. Außerdem gibt es eine fundamentale Krise im Immobiliensektor. Hier kann eine baldige Erholung nicht erwartet werden. Darüber hinaus geht einigen Lokalregierungen das Geld aus, was die Schließung wichtiger Infrastrukturen wie Krankenhäuser oder Buslinien zur Folge hat. Außerdem verlegen große internationale Firmen aufgrund gestiegener Kosten und Unsicherheit ihre Produktionsstätten nach Indien, Vietnam oder in andere Länder. Diese Art der Diversifizierung der Unternehmen wird große ökonomische Auswirkungen auf China haben. In Zukunft wird China daher sowohl politisch als auch ökonomisch volatil sein. Das ist keine gute Ausgangsposition, um international eine führende Rolle zu spielen.

Die deutsche Regierung sollte interessenbasierte und auf globale Probleme fokussierte Außenpolitik betreiben. Dafür sollte man die eigenen Interessen klar formulieren, unterschiedliche Positionen und ihre Folgen offen diskutieren und im Verbund mit den EU-Staaten, den USA und anderen Partnern im asiatischen Raum agieren, schreibt Peter Hefele von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Konkret gilt es für Deutschland, seine china-bezogene Expertise besser zu koordinieren. In Deutschland gibt es trotz gegenteiliger Behauptungen zahlreiches hochwertiges Expertenwissen, das man besser in den Politikprozess einbinden muss. Deutschland muss sicherstellen, dass es seine Autonomie in der Wissensinfrastruktur beibehält und gegen externe Einflussnahmen schützt. Darüber hinaus muss die institutionelle Fragmentierung der deutschen China-Politik überwunden werden. Deutschland muss sich bei seiner China-Politik der europäischen, transatlantischen und pazifischen Dimensionen bewusst sein. Hier sollten eigene und europäische Interessen auch gegenüber Partnern wie den USA und China deutlich gemacht werden, um in der Lage zu sein; im europäischen Verbund Krisen zu überstehen. Zudem gilt es für Deutschland, strategischen Weitblick zu entwickeln und die Fähigkeit zu erwerben, auch in alternativen Szenarien zu denken, um die dynamischen Herausforderungen mit China bewältigen zu können. Die deutsche Politik muss nun heikle Abwägungen treffen. Mit China zusammen ist es einfacher, globale Probleme zu lösen. Allerdings werden sich Deutschland und China bei einem Fortführen der bisherigen Politik immer weiter voneinander entfernen.

Dr. Genia Kostka, Professorin für chinesische Politik an der Freien Universität Berlin, Leiterin des Instituts für Chinastudien, lebt in Berlin.