27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

Goethe schweigt für den Frieden

von Detlef Jena

Nur ein einziges Mal ist Goethe in Berlin gewesen. Gedemütigt und ernüchtert hat er die Stadt schnell wieder verlassen, zudem voller Sorge um den Frieden in Europa. Die Vorgeschichte ist aus heutiger Sicht bizarr: Am 30. Dezember 1777 starb der bayerische Kurfürst Maximilian III. Joseph. Damit erlosch die bayerische Linie der Wittelsbacher. Kaiser Joseph II. erhob Ansprüche auf Niederbayern und die Oberpfalz. Österreichische Truppen rückten in diese Gebiete ein. Die meisten deutschen Reichsstände lehnten die Machterweiterung der Habsburger ab. Wirklich erbost war jedoch nur Preußens König Friedrich II., der nach dem Siebenjährigen Krieg jeden Schritt der Habsburger mit Argwohn verfolgte. Zwischen Preußen und Österreich begannen immerhin zähe Verhandlungen und Friedrich II. versuchte, die kleineren deutschen Fürsten auf seine Seite zu ziehen. Das misslang. Zu sehr litten die Staaten noch unter den Folgen des Siebenjährigen Kriegs.

Als eine der wenigen Ausnahmen antwortete Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach positiv auf das Werben des Potsdamer Großonkels. Noch nicht einmal zwei Jahre auf dem Thron, witterte der Nachfahre des Herzogs Bernhard von Weimar, des „Kriegshelden“ aus dem Dreißigjährigen Krieg, die Chance, selbst militärischen Ruhm erfechten zu können. Goethe reagierte entsetzt! Er fürchtete den Ausbruch eines neuen Krieges und wollte verhindern, dass „unser Kahn“ (Weimar) „zwischen den Orlogschiffen (Preußen und Österreich) gequetscht“ werden würde.

In dieser prekären Situation besuchte Graf Friedrich von Anhalt-Dessau im März 1778 Weimar. Er lieferte einen möglichen Schlüssel zur Lösung des bedrückenden Problems. Goethe notierte am 8. April 1778 in sein Tagebuch, welche Sorgen er sich über das „Kriegsgefühl“ seines Herzogs machte, und: „A Tempo Brief des Fürsten von Dessau.“

Fürst Franz von Anhalt-Dessau demonstrierte unmissverständlich, dass für ihn eine Koalition mit Preußen und eine Teilnahme am Krieg gegen Österreich nicht in Frage kamen. Er dämpfte den Eifer Carl Augusts allerdings nur für wenige Wochen. Goethe musste wirksamere Möglichkeiten ersinnen, seinem Dienstherrn die Flügel zu stutzen. Er fand wiederum beim Fürsten von Anhalt-Dessau Hilfe. Gemeinsam arrangierten sie eine Reise nach Berlin und Potsdam.

Am 10. Mai 1778 fuhren Carl August und Goethe nach Leipzig. Am folgenden Tag trafen sie dort ganz zufällig auf den Fürsten Franz. Man fasste spontan den Entschluss, erst einmal nach Wörlitz und Dessau zu gehen und anschließend gemeinsam nach Potsdam und Berlin zu fahren. Goethe gewann erneut etwas Zeit und Gelegenheit, Weimars Herzog in der friedlichen Wörlitzer Landschaft zu bearbeiten. Am 13. Mai erreichten sie Wörlitz, und Goethe schrieb an seine Freundin Charlotte von Stein jene berühmten Sätze, die zum Inbegriff des Friedens im Wörlitzer Gartenparadies geworden sind: „Hier ist’s iezt unendlich schön. Mich hat’s gestern Abend, wie wir durch die Seen, Kanäle und Wäldgen schlichen, sehr gerührt, wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben, einen Traum um sich herum zu schaffen. Es ist, wenn man so durchzieht, wie ein Mährgen, das einem vorgetragen wird. … Das Buschwerk ist in seiner schönsten Jugend, und das ganze hat die reinste Lieblichkeit.“

Doch es gab leider keinen Platz für nachhaltige Träumereien: „Und nun bald in der Pracht der königlichen Suidte im Lärm der Welt und der Kriegsrüstungen…“ Er fürchtete sich vor den notwendigen Auseinandersetzungen: „…ich scheine dem Ziele dramatischen Wesens immer näher zu kommen, da mich’s nun immer näher angeht, wie die Großen mit den Menschen, und die Götter mit den Großen spielen…“

Am 14. Mai reiste die inzwischen beträchtlich angewachsene Suite um Franz und Carl August aus Wörlitz ab. Am Abend des nächsten Tages war man in Berlin. Eine heikele Mission! Würde es gelingen, Carl August ausgerechnet in der Höhle des Löwen von seinem Kriegseifer abzubringen? Innerhalb von zwei Tagen legten sich alle Beteiligten ihr Konzept zurecht. Die Friedensfreunde besaßen einen kleinen Vorteil. Der preußische König war bereits aus Berlin zu seinen in Böhmen aufmarschierenden Truppen abgereist. Am Sonntag, dem 17. Mai, kam es beim preußischen Prinzen Heinrich in dessen Palais zum entscheidenden Gespräch.

Die Herren Hohenzollern trieben da ein munteres Spielchen mit dem jungen Herzog aus Weimar. Kein Wort davon, dass sie in der bayrischen Thronfolge selbst gegen ihren König opponierten. Sie provozierten den Carl August, indem sie ihn nach Briefen des legendären Herzogs Bernhard befragten, die es doch in Weimar geben müsste und die für ihn, der selbst nach Kriegsruhm strebte, von großer Bedeutung wären. Der Herzog reagierte verwirrt und unentschlossen. Man rief Goethe zum Zeugen, aber der blieb stumm, sagte kein Wort, obwohl er um die Existenz der Briefe wusste. Er wollte mit keinem einzigen Wort dazu beitragen, die Feldherrensehnsucht Carl Augusts zu unterstützen. Außerdem spürte er, dass er als bürgerlicher Dichter im Kreise des preußischen Hochadels nur widerwillig geduldet wurde und man auch ihn zu undiplomatischen Äußerungen veranlassen wollte. Der Dichter des „Götz von Berlichingen“ schwieg eisern.

Goethe bekannte, dass er sich bei dieser Reise und der selbst so betrachteten „Verschwörung“ mit dem Fürsten Franz in der Rolle des treuen Heinrich aus dem Märchen vom Froschkönig sah: „… die eisernen Reifen, mit denen mein Herz eingefasst wird, treiben sich täglich fester an, dass endlich gar nichts mehr durchrinnen wird“. Er war froh, dass Carl August in Berlin nicht mit fliegenden Fahnen an die Seite Preußens getreten war und schrieb bei der Rückreise am 28. Mai erleichtert aus Dessau, wie froh er war, dem militärischen Drill am preußischen Hof entgangen zu sein und dass er die übrige Zeit „ … sehr friedlich in Wörlitz zuge­bracht“ hätte, wo er der lieben Frau von Stein „auch etwas gezeichnet habe“.

Doch mag ihm auch ein verschwörerisches Spektakel vorgeführt worden sein, hinters Licht ließ er sich nicht führen. Wenige Wochen später schrieb er an den Freund Johann Heinrich Merck: „Auch in Berlin war ich im Frühjahr; ein ganz ander Schauspiel! Wir waren wenige Tage da, und ich guckte nur drein wie das Kind in Schoen-Raritäten Kasten. Aber du weist wie ich im Anschaun lebe; es sind mir tausend Lichter aufgangen.“ Zumindest deutete er hier an, nicht ahnungslos hinter die gezinkten Karten gesehen zu haben! In Wien und St. Petersburg war man da allerdings besser informiert.

In den Berliner Maitagen flehte Goethe, ganz Poet und Dichter, die Götter erneut an, „dass sie mir meinen Muth und grad seyn erhalten wollen biss ans Ende, und lieber mögen das Ende vorrücken als mich den lezten theil des Ziels lausig hinkriechen lassen.“

Das war natürlich ein wenig übertrieben im Ausdruck, doch er fürchtete zugleich, die Götter würden ihn auch jetzt nicht aus seinen Ängsten und seiner Erstarrung befreien: „Ich bete die Götter an und fühle mir doch Muth genug ihnen ewigen Hass zu schwören, wenn sie sich gegen uns betragen wollen wie ihr Bild die Menschen.“ Er musste diese zwiespältigen Gefühle wohl oder übel mit sich selber austragen: vielleicht könnten ja die nächsten Tage helfen, wenn er noch einmal in das himmlische Wörlitz zurückkehrte!

Doch die eisernen Bande vom Herzen des treuen Goethe waren dadurch noch nicht gelockert. Das geschah auch nicht durch einen generellen Verzicht Carl Augusts auf Kriegsabenteuer, wie ihn der Fürst von Anhalt-Dessau vorlebte und wie ihn Goethe erstrebte. Der Verlauf des Bayrischen Erbfolgestreits bestimmte die weiteren Handlungen Carl Augusts

Erst am 5. Juli 1778 marschierten die preußischen und österreichischen Truppen mit voller Stärke in Böhmen auf. Friedrich II. und Joseph II. reckten die Hälse wie zwei Kampfhähne, obwohl sie genau wussten, dass sie sich einen neuen Krieg nicht leisten konnten. Sie hatten dafür weder Geld, noch logistische Voraussetzungen: die preußische Garde sammelte am Ende Kartoffeln, um nicht zu verhungern, die Österreicher begnügten sich mit reifen Pflaumen. Es war einer der wenigen glücklichen Kriege der Weltgeschichte, in denen kein Schuß fiel, der als „Kartoffelkrieg“ bzw. „Zwetschkenrummel“ in die Annalen eingegangen ist.

Goethe konnte sagen, dass er ein ganz klein wenig zu diesem Ergebnis beigetragen hatte – indem er am 17. Mai in Berlin geschwiegen hatte. Nach der friedlichen Einigung Preußens und Österreichs konnte er endgültig die eisernen Bande abstreifen – zumindest vorerst.