Im Jahr 2010, aus Anlass eines runden Geburtstages, formulierte Damm, einen Ringelnatz-Vers aufnehmend: „Einmal nur Blick ich zurück.“ Nun liegt ihr bislang umfangreichster Essayband in vier Abteilungen vor, der überraschenderweise nicht chronologisch angelegt ist. Er blickt von heute aus auf das Geschaffene zurück, setzt mit den jüngsten Arbeiten von 2022 ein und endet mit ihrem grundlegenden Text über Caroline Schlegel-Schelling von 1979.
Schon anfangs zeigt die in Thüringen geborene und in Jena ausgebildete Autorin, dass sie über den Tellerrand der Literatur hinausblickt: So stellt sie den Zyklus „Totentanz“ des Malerfreundes Lutz Friedel vor.
Vom Kino spricht Damm 2022, von dem sowjetischen Film „Leuchte, mein Stern, leuchte“, der sie über Jahrzehnte nicht losließ. Mit 31 Jahren erlebte sie 1972 die Premiere. „…als ich das Kino verließ, schien alles um mich herum verändert, unter meinen Füßen war 20 cm Luft, ich lief nicht, ich schwebte, ich flog“. Am Ende erinnert die Filmbesucherin an große sowjetische Literaturverfilmungen, auch an „Die Kraniche ziehen“, an „Andrej Rubljow“ und „Stalker“. Manchen Leser mag es irritieren, dass die Autorin jetzt an sowjetische Kunstwerke erinnert, zu einer Zeit, da Putins Krieg den Ruf Russlands fundamental ruiniert.
Wer an Damms Werk denkt, dem fallen die Namen Mörike und Hesse wohl nicht zu allererst ein. Preise bzw. Stipendien boten Anlässe, über diese Autoren zu schreiben. Bei Hesse verfolgt Damm unter anderem, in welcher Weise sich ihr Verleger Sigfried Unseld über Jahrzehnte um das Werk des Nobelpreisträgers gekümmert hat. Man lese auch, wie feinfühlend die Autorin über das wenig in den Blick genommene Thema Mörike und die Frauen nachdenkt.
Der Band bildet genau das Gesamtwerk Sigrid Damms ab. Nur an zwei Autoren wird mehrfach erinnert: an Lenz und an Goethe. Bei Lenz entschied sich Damm für ihre frühe, viel beachtete Rede „Lenz – eine geheime Lernfigur“ sowie für eine gekürzte Fassung des Nachworts zu ihrer Lenz-Ausgabe, die gleichfalls 1987 erschien. Jahrzehnte hatte Damm Goethes Umfeld erkundet, über Lenz, Schiller, Goethes Schwester und die spätere Ehefrau geschrieben, bis sie in „Goethes letzte Reise“ (2008) den Dichter und Geheimrat selbst in den Mittelpunkt ihres Schaffens stellte. Goethe erhält im vorliegenden Buch insofern einen Ehrenplatz, als die vier Essay über ihn das gesamte dritte Kapitel ausmachen. Dem längeren Essay „Das Ilmenauer Bergwerk: Goethe als gescheiterter Unternehmer“ folgen drei kürzere, weniger bekannte Arbeiten, die dem privaten Goethe vorbehalten sind. An den 200. Hochzeitstag von Christiane und Goethe (2006) wird erinnert und die Ehebriefe werden in betrachtet. Am wenigsten bekannt dürfte der Aufsatz „Der Zeitverlust, das schöne Geschlecht und Goethes Werk – Über Goethe und die Frauen“ sein, der 1999 zum Europäischen Kulturstadtjahr Weimars entstand.
Unter den zeitgenössischen deutschen Dichtern hat Sigrid Damm keinen Kollegen so genau gekannt wie den 1984 verstorbenen Franz Fühmann. Auch für ihre Söhne war er eminent wichtig. Sie beschreibt, wie der schwerstkranke väterliche Freund noch in der Klinik versucht, sein letztes Werk „Im Berg“ zu beenden. Es blieb Fragment.
In dem Essay-Band, für den sich Damm den Titel bei der sorbischen Dichterin Róža Domaṡcyna lieh, hat mich – auch nach mehrmaliger Lektüre – kein Text so aufgewühlt, wie der über Fühmann, der den Titel trägt: „Am liebsten tät ich auf die Straße gehn und brüllen.“
Sigrid Damm: Alle Wege offen – Essays. Mit einem Nachwort von Heinrich Detering, Insel, Berlin 2023, 343 Seiten. 20,00 Euro.
Schlagwörter: Essays, Goethe, Sigrid Damm, Ulrich Kaufmann