27. Jahrgang | Nummer 6 | 11. März 2024

Der Heldenplatz mit Metroanschluss

von Joachim Lange

Es war natürlich kein Skandal, was Frank Castorf, Aleksandar Denić (Bühne) und Adriana Braga Peretzki (Kostüme) da mit Thomas Bernhards „Heldenplatz“ im Burgtheater angestellt haben. Aber eine Erinnerung an das Theaterereignis, das 1988 Österreich erschütterte, gab es als Fußnote gleich zu Beginn. Da brüllt Marcel Heupermann immer wieder „Buh“ Richtung Saal. So wie der spätere FPÖ-Chef H. C. Strache als junger Mann mit ausgestrecktem Arm seinerzeit von seinem Rangplatz aus. Das Youtube-Video im Internet mag genauso zur Vorbereitung auf diese Heldenplatz Inszenierung passen, wie die Aufzeichnung der (ästhetisch aus heutiger Sicht kreuzbraven) Uraufführungsinszenierung von Claus Peymann.

Beim Schlussapplaus der Neuinszenierung kamen dann tatsächlich ein paar Buhs für Castorf und sein Team aus dem Saal zurück. Allerdings eher pflichtschuldig als enthusiastisch. An die Ästhetik des amtierenden Altrevoluzzers unter den Regisseuren sind die Wiener gewöhnt. Zur Premiere waren die Castorf-Fans eindeutig in der Mehrheit. Die von Thomas Bernhard und dem ganz und gar großartigen Burg-Ensemble sowieso.

Die giftige Breitseite, mit dem der von Claus Peymann in Auftrag gegebene und dann inszenierte Bernhard-Text damals die historische Vergesslichkeit von dessen Landsleuten traf, ist mittlerweile Allgemeingut. Zumindest des Diskurses, wenn auch nicht des Denkens. Der virulente Teil einer braunen, antisemitischen Vergangenheit ist (auch) in Wien nicht zu übersehen oder zu überhören. Wenn auch nicht in der zur Kenntlichkeit entstellenden Übertreibung wie im Stück. In der Rolle als erstes Opfer der Nazis und nicht als Mittäter lebte es sich halt deutlich bequemer. Seinerzeit wurde in Österreich gespottet, dass nur das Pferd des damaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim bei der SA war, während er von nichts wusste…

Im Stück treffen Hinterbliebene und Freunde nach dem Tod des jüdischen Professors Josef Schuster aufeinander. Der war den Nazis gerade noch rechtzeitig von Wien nach Oxford entkommen. In den Fünfziger Jahren kehrte er auf Bitten des damaligen Bürgermeisters nach Wien zurück. 1988 aber hielt er die Vergangenheit in der Gegenwart nicht mehr aus und sprang dem Fester seiner Wohnung auf den Heldenplatz in den Tod. Seiner Frau geht das berüchtigte Sieg-Heil-Gebrüll auf diesem Platz, mit dem die Wiener Hitler und den „Anschluss“ Österreich an dessen Reich feierten, nicht aus dem Kopf. Die bösartig erhellenden Tiraden des Bruders des Toten, Robert Schuster, sind der Kern der Botschaft – sie punkten immer noch mit Treffsicherheit. Auch (oder vor allem), weil sie Birgit Minichmayr als grotesk gespenstische Mumie über die Rampe in den Saal wienert. Immer, wenn der sofort als solcher erkennbare Bernhard-Text tatsächlich zum Zuge kommt, ist der Abend ganz und gar bei seinem Kern, den diese ansonsten mit ihren über fünf Stunden ausufernde Textrevue zur Flut von Bildern und Assoziationen weiträumig, wie bei Castorf üblich, reichlich mit zusätzlichen Texten umkreist.

Da Castorf sein Theater eigenen ästhetischen Rechts weiter perfektioniert hat, liegt dessen Reiz nurmehr in der Variation bekannter Versatzstücke. Eine metaphorische Verortung – diesmal in New York – ist verbunden mit einer Zeitreise ins Jahr 1939. Der Ehrgeiz, Untergründiges aufzuspüren, führt auch diesmal zu mehr oder weniger schlüssigen Fahrten mit der U-Bahn. An dem nachgebauten Eingang der Brooklyner Station Borough Hall wirbt ein Plakat für ein Massenspektakel unterm Hakenkreuz fürs „wahre Amerika“ am 20. Februar 1939 im Madison Square Garden! In Fraktur – wie über einem Biergarten-Zugang – prangt der Schriftzug: „Umbringen sollte ma Ihnen“. Im Hintergrund ein portalfüllendes Schwarzweiß-Foto einer Reichsparteitags-Massenhysterie. In diesem metaphorischen Anschluss des Wiener Heldenplatzes an einen früher wie auch jetzt rumorenden Untergrund liegt wohl der Kern von Castorfs Heldenplatz-Annäherung. Es ist der geweitete Blick des historisch gebildeten Analytikers, der einer direkten platten Aktualisierung nicht bedarf und dennoch zeitgemäßes Theater macht.

Bei dem auf Video übertragenen Leichenschmaus im Inneren eines Containers mitten auf der Bühne werden Pellkartoffeln geschält. Wenn der wunderbaren Inge Maux dann der Kopf in die Kartoffeln fällt, landet Claus Peymanns Schlussbild von einst als hübsche selbstreferentielle Fußnote mitten im Castorf-Theater. Nicht lachen kann man allerdings, wenn aus den Duschköpfen hinter den Kristalllüstern in diesem Container-Wohnzimmer tatsächlich Gas strömt (dessen Wirkung freilich alle entfliehen können). Wirklich ergreifend sind dagegen die jüdischen Lieder, die Maux und Minichmayr singen.

Einen Vorzug hat diese Castorf-Inszenierung: Mit seiner mittlerweile erreichten Alterssouveränität mutet er seinen Schauspielern zwar nach wie vor allerhand zu, aber vor allem versteckt er sie nicht hinter irgendwelchen Mädchen, sondern lässt sie leuchten. Vor allem mit dem Thomas-Bernhard-Sound. Aber auch mit den Fremdtexten, die Hitlers Reich aus der US-Perspektive sehen. Herausfordernd in den ausführlichen Passagen von Thomas Wolfe (1900-1938). Verblüffend in den naiv bewundernden Tagebucheindrücken des damals noch jungen, späteren US-Präsidenten John F. Kennedy von seiner Europatour 1937.

Allesamt beeindrucken in dieser Produktion mit der Ausstrahlung ihres jeweiligen Alters und mit ihrem Charisma: Von der überwältigend wandlungsfähigen Birgit Minichmayr im Zentrum über den altersweisen Branko Samakrovski und die altersschöne Inge Maux bis zum fabelhaften Franz Pätzold (der für einen langen Wolfe-Monolog Szenenapplaus kassiert), Marie-Luise Stockinger und Marcel Heuperman. Bei allen wird Sprache nie zur Nebensache. Burgtheater eben. Ein langer Abend. Mit Nachwirkungen.