27. Jahrgang | Nummer 7 | 25. März 2024

„Deutschland. Aber normal“

von Stephan Wohanka

Der Höhenflug der AfD scheint gebrochen: Nach guten 20, gar 23 Prozent liegt sie momentan in Umfragen bei 17 bis 18. Damit ist sie immer noch zweitstärkste Partei nach der Union. Und bei den in diesem Jahr in den neuen Bundesländern anstehenden Wahlen wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit gewinnen.

Noch ist nicht bekannt, mit welchem Wahl-Motto die AfD in die Auseinandersetzungen ziehen wird. In der Bundeswahl 2021 bediente sie sich des Slogans „Deutschland. Aber normal“. Warum ist es wert, nochmals daran zu erinnern?

Nach Carl Schmitt werden die Ordnung einer Gesellschaft immer diejenige bestimmen, die den Begriff des Normalen als Recht zu setzen vermögen. Schmitt kam zu seiner These, als er sich mit der „politischen Romantik“ auseinandersetzte, die ihm zufolge auf die „Unsicherheit der Zeit und ihr tiefes Gefühl, betrogen worden zu sein“ reagiert. Das passt wie die Faust aufs Auge – die „Unsicherheit der Zeit“ und das „tiefe Gefühl, betrogen worden zu sein“, bestimmen heute den politischen Diskurs, die Debatten im Netz und die Proteste auf der Straße. Die reaktive Politik (der Bundesregierung) mit „politischer Romantik“ in Beziehung zu bringen, ist schwierig, aber nur auf den ersten Blick. Ein Blick in die deutsche Geistesgeschichte genügt, um eine Erklärung zu finden. Novalis schreibt: „Die Welt muss romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt“. Der letzte Satz hat es in sich – namentlich den Grünen wird der massive Vorwurf gemacht, das „niedre Selbst“ zu einem „bessern Selbst“ zu führen, vulgo die Gesellschaft von einer karbonbasierten in eine auf erneuerbare Energien gestützte umwandeln zu wollen – die „qualit[ative] Potenzirung“. Dass die Grünen damit meines Erachtens das Richtige wollen (und es in Teilen schlecht machen), tut hier wenig zur Sache, dieser Wandel ist jedenfalls mitverantwortlich für die „Unsicherheit der Zeit“.

Doch zurück zu Schmitt und der AfD. „… den Begriff des Normalen als Recht zu setzen …” – es muss ja nicht gleich Rechtsetzung sein, die kann später kommen. Vorläufig genügte es, die „Norm zu setzen“: „Deutschland. Aber norm-al“. Der Slogan ist strategisch angelegt, insofern ist er „zeitlos“, was – wie eingangs gesagt – die Beschäftigung mit ihm auch heute noch nahelegt.

Er bedient auf verschiedene Arten die von der AfD geschürte vermeintliche Sehnsucht nach „deutscher Normalität“. 2021 wurde die „Rückkehr in die Normalität“ gegen Corona-Impfungen und Testungen geradezu beschworen. Eine in Teilen verunsicherte, pandemiegenervte „normale“ Mitte der Gesellschaft sollte als Wählerschaft mobilisiert werden. Auf diesem Hintergrund ist klar: Jedwede zukünftige (politische) Maßnahme, die, auch aus guten Gründen, seitens des „Systems“ verhängt wird, werden muss, kann fürderhin als „unnormal“ denunziert und zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden; ein Generalverdacht gegen alles, was „von oben“ kommt. Wobei – Politik ist mehr denn je Handeln unter Unsicherheit.

„Deutsche Normalität“ ist des Weiteren der Versuch, völkisch-nationalistische Positionen nicht nur innerhalb der AfD, sondern auch in der Gesellschaft zu etablieren. Das rechtsnationale Streben nach einer gefestigten ethno-deutschen Vorherrschaft gilt es umzudeuten als bloße Verteidigung des „normalen“, alltäglichen Lebens der „gewöhnlichen Deutschen“. Dabei wird die „Normalität“ einer strukturell rassistischen, den Klimawandel leugnenden und die Gefahren rechtsextremer Gewalt verharmlosenden Gesellschaft nicht nur zum Ideal erhoben, sondern erscheint zudem als gefährdet und schützenswert. Dass dies auf fruchtbaren Boden fällt, zeigen die Proteste auf der Straße – in Teilen als widerständische und geradezu heroische politische Aktion, denkt man an manche Bauernproteste.

Die neuere deutsche Geschichte bringt es mit sich, dass die Ablehnung der „besonderen“ deutschen Erinnerungskultur mindestens indirekt als grundsätzliche AfD-Position verstanden werden muss: „ … die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus […] ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst“, wie die Partei in ihrem 2016 beschlossenen Grundsatzprogramm schreibt. Ergo: Wir Deutschen sind ein Volk mit einer „normalen“ Geschichte, die Höhen und Tiefen kennt wie die Historie anderer Völker auch.

Umso erstaunlicher mutet heute das damalige Medienecho an. So schrieb Reinhard Mohr in der Neuen Zürcher Zeitung, die AfD gehe mit einem „gefühlvollen Heimatfilm“ (dem in Rede stehenden Wahlslogan war ein Werbespot zur Seite gestellt – St. W.) in die Bundestagswahl, „ein bisschen nostalgisch, aber ohne Hass“. Die Tagesschau merkte an, der Slogan sei „in einer Zeit, in der aufgrund der Coronapandemie das öffentliche Leben tatsächlich alles andere als normal ist, kein unpassender Spruch“. Die Journalistin Maria Fiedler bezeichnete die AfD-Wahlkampagne in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk als „ziemlich klug“, aber in ihrer „Selbstverharmlosung“ auch „gefährlich“. Der Kommunikationsberater Johannes Hillje sah in dieser Strategie desgleichen eine Selbstverharmlosung – und bezog sich damit unter anderem auf den Wahlwerbespot der Partei, Tenor: Der Staat müsse sich stärker für die Interessen der „normalen Menschen“ einsetzen. „Die Botschaft ist, wir sind die Partei der normalen Leute“, meinte Hillje. „Formuliertes Ziel … ist, so etwas wie die emotionale Barriere der Normalbürger zur AfD einzureißen, indem man sich deutlich moderater gibt, als man tatsächlich ist“. Sic! So viel Verharmlosung, die der „Selbstverharmlosung“ der AfD auf den Leim geht, war selten!

Die deutsche Sehnsucht nach Normalität hat eine Geschichte: Jürgen Link,

Literaturwissenschaftler und Diskurstheoretiker, beschreibt in seinem „Versuch über den Normalismus“ (1997) die „Normalität“ als eine „diskurstragende Kategorie“, ohne die eben dieser zusammenbräche „wie ein Kartenhaus“. Ob in Bezug auf eine De-facto-Normalisierung des Naziregimes in der frühen BRD, die konservative Sicht auf die Teilung Deutschlands nach 1945 („anormal“) oder die Rückkehr zur Normalität nach 1989 – der deutsche Normalitätsdiskurs sei, so Link, stets überdeterminiert, widersprüchlich und konzeptionell unausgereift gewesen.

Das greift heute zu kurz! Meines Erachtens nach kann zumindest die von der AfD ausgegebene „Normalität“ nur – wie oben – im Sinne Schmitts gelesen, verstanden und polemisch aufgegriffen werden. Und zwar als Schritt, als Etappe auf dem Weg zur Schleifung des Rechtsstaats. Zeigen die Beispiele Ungarn und Polen nicht klar, worum es geht? Sowohl Viktor Orbán als auch Jarosław Kaczyński drangen erst darauf, das selbstdefinierte moralische und ethnisch-homogene nationale „Normal“ zu beschwören und (wieder) herzustellen, wo es ihrer Meinung nach schon abhandengekommen war. Schmitt spricht von „der Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“. In den acht Jahren der PiS-Regierung in Polen wurden danach Schlüsselinstitutionen im Staat der Regierungspartei untergeordnet. Die Judikative wurde so „reformiert“, dass die Unabhängigkeit der Justiz infrage gestellt wurde; die Judikative sollte als eine unabhängige Säule des Rechtsstaats ausgeschaltet werden. Desgleichen versuchte auch die ungarische Regierung, Justiz und Presse unter ihre direkte Kontrolle zu bringen und deren Unabhängigkeit auszuhöhlen, was auf die Unterminierung der Gewaltenteilung und des Gleichgewichts der politischen Kräfte im Staat hinausläuft.

Ich weiß nicht, ob Kaczyński oder Orbán einen Begriff von Schmitt haben, geschweige denn, ob sie ihn jemals lasen – seine Vorstellungen bildeten jedoch die Blaupause zur Umgestaltung ihrer Staaten: Erst die soziale und politische Ordnung „normalisieren“, um dann den demokratischen Rechtsstaat zu zerstören. Was die AfD-Granden und ihre ideologischen Einflüsterer angeht, bin ich mir sicher, dass sie Schmitt nicht nur kennen und lesen, sondern er einer ihrer Säulenheiligen ist und sie ihm zu folgen bereit sind.