27. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2024

Bleiberecht für Jonny, Jim und Monostatos!

von Joachim Lange

Schaffen sich Theater und Oper bald selbst ab – oder darf und kann Kunst alles, wenn sie es kann? Es gab Zeiten, da logierte die Integrität von überlieferten Texten (vom Kinderbuch bis zum Opernlibretto) ziemlich nah bei der Kunstfreiheit. Den Kontext der Entstehung gab es da natürlich auch schon. Er lieferte den Interpreten und Rezipienten reichlich Stoff für produktive Reibung – von der Bekräftigung allgemein menschlicher Wahrheiten bis zur Infragestellung überholter Werte. Was wiederum zu produktiven Konflikten führte, wenn eine Vorlage überholt schien oder war. Oder wenn Interpreten die Erwartungen des Publikums nicht bedienten. Auf der Bühne war der Weg vom Premierenskandal zum Kultstatus oft gar nicht allzu weit. Patrice Chereaus Jahrhundertring bei den Bayreuther Festspielen vor 50 Jahren ist dafür das hochkulturelle Paradebeispiel. Von den Saalschlachten im ersten Jahr bis zum legendären 85 Minuten währenden Schlussapplaus nach der letzten „Götterdämmerung“ brauchte es gerade mal fünf Jahre.

Seit einiger Zeit freilich weht (wie so oft aus den USA) ein anderer Wind. Es ist nicht mehr die souveräne Auseinandersetzung mit überlieferten Vorlagen durch Interpreten und Zuschauer, die bei der Kunst(re-)produktion im Vordergrund steht, sondern eine Art schleichender ästhetischer Staatsstreich aus vermeintlicher Rücksichtnahme. Dabei sind es keine Horden wildgewordener Realitätsverweigerer, die die Kapitolshügel der Kultur stürmen, sondern die Streiter für das „wirklich Wahre“, die die beste der möglichen Welten wollen – nicht nur heute und in Zukunft, sondern auch in der Vergangenheit! Immer unter dem Banner von „Betroffenheit“. Sie wittern hinter jedem Buchdeckel, hinter jedem Theatervorhang oder auf jedem Bild die Gefahr von Retraumatisierungen. Sie korrigieren beherzt (besser gesagt: anmaßend) patriarchalische Strukturen, indem sie ein vermeintlich „gerechtes“ Neusprech erzwingen. Bei den Dramaturgen haben sie gefühlt längst die Mehrheit. Auch in den öffentlich-rechtlichen Medien sind sie damit durch „freiwilliges“ Mitmachen schon (zu) weit gekommen. Selbst die Freiheit der wissenschaftlichen Debatten an Universitäten ist unter Beschuss.

In der Oper treibt das Blüten, die intellektuell eigentlich eine Parodie sind, die sich selbst entlarven und amüsieren könnte. Wenn es nicht so ernst für die Kunstfreiheit und so gefährlich für die Meinungs- und Redefreiheit wäre.

Mit den Debatten um das sogenannte Blackfacing wurde die Tür zur Selbstzensur geöffnet. Seither kann unwidersprochen behauptet werden, dass die Darstellung von dunkelhäutigen Bühnenfiguren durch dunkel geschminkte hellhäutige Darsteller gar nicht gehe. Die logische Konsequenz, dass folglich dunkelhäutige Künstler keine hellhäutigen Bühnenfiguren mehr darstellen dürften, Mörder nur von Mördern gespielt werden könnten, mithin eine Prämisse von darstellender Kunst (das Spiel, die Verstellung) aufgegeben würde, wird im Eifer des Gefechts bewusst übersehen. Oder bewusst in Kauf genommen.

Das führt zu grandios überzogenen Warnungen und Triggerkatalogen, wie auf der Homepage des Deutschen Nationaltheaters in Weimar. Dessen Lektüre lohnt, weil sie einen ganz neuen Blick auf die „Gefährlichkeit“ des Genres Oper wirft! Da gibt es „Informationen zu sensiblen Themen, Inhalten und sensorischen Reizen“. Zum „Fliegenden Holländer“ etwa heißt es: „Die Sehnsucht nach dem Tod ist zentrales Motiv der Stückhandlung. Im Verlauf der Darstellung wird momentweise Gewalt gegen Frauen gezeigt. Es wird Vokabular erwähnt, das als rassistisch konnotiert verstanden werden kann. Es ertönen Schüsse; Nebel, Blut und Feuer werden eingesetzt.“

Das könnte auch eine Art subversive Kritik durch Übertreibung sein. Zu befürchten ist indes: Sie meinen es ernst. Triggerwarnungen dieser Art haben kulturkämpferisches Reizpotenzial wie sonst nur der Genderzwang. Und doch fehlen welche. Und zwar (Achtung Satire!) die Warnung vor der Oper als Kunstform; davor, dass sie heute anders als zur Uraufführung auf die Bühne kommt. Dass man das Publikum für so unterbelichtet hält, mit all dem nicht mehr klar zu kommen. Und natürlich die Triggerwarnung vor Triggerwarnungen …

Spiegelt das eine Realität, die den meisten verborgen bleibt, oder steckt hinter all dem die Shitstormangst vor Betroffenheitsanmaßungen? Dazu kommt die Gefahr, dass das, was als Warnung ans Publikum adressiert ist, auch nach innen, auf die Interpretationsfreiheit der Künstler zurückwirken könnte. Der Griff zu dieser „Schere im Kopf“ kommt einem, gerade an einem Ort wie Weimar, irgendwie bekannt vor.

Derartigen Warnungsübereifer kann man natürlich ignorieren. Beim Versuch massiver, betroffenheitspolitischer Interventionen ist das indes nicht so einfach. Der Sündenfall war die Absetzung von Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“, weil der Intendant des Gärtnerplatzheaters in München den Angriffen von Aktivisten (nicht von Zuschauern!) nicht standhielt. Eine historische Pointe dieses Falls von Feigheit vor dem Netz liegt darin, dass es ausgerechnet das Plakat zu dieser Oper war, das die Nazis für Ihre Ausstellung „Entartete Musik“ missbrauchten. Heute wird jener Jonny „geschützt“, indem er (zum zweiten Mal) von der Bühne verbannt wird.

Seinem „Kollegen“ Jim ging es in einer Inszenierung von Paul Abrahams „Blume von Hawaii“ in Magdeburg noch ärger. Der wurde schon vor der Premiere „abgeschoben“. Seinen Part hatte man mittels dazu erfundener Rahmenhandlung durch den einer Fleischverkäuferin ersetzt. Was schon wegen der Biografie des Komponisten Paul Abraham und der Librettisten, von denen Fritz Löhner-Bender in Auschwitz ermordet wurde, mehr als heikel ist. Jimmys melancholisches Solo im dritten Akt beginnt hier nicht mit „Schwarzes Gesicht, wolliges Haar, großes Saxophon“, sondern mit „Blasses Gesicht, strähniges Haar, wenig eloquent“ und ist auch sonst auf „heute korrekt“ umgedichtet.

Eifer dieser Art macht auch vor der beliebtesten Oper überhaupt und einer der prominentesten schwarzen Opernfiguren nicht halt. In Leipzig mutierte Mozarts und Schikaneders Monostatos in der jüngsten, eigentlich ganz gelungenen Inszenierung der „Zauberflöte“ zu einem weißen Barbaren. Abgesehen davon, dass die Peitschenhiebe, die Sarastro befiehlt, auch kein Beispiel von zivilisiertem Strafrecht sind, fragt man sich, was es soll, wenn Monostatos nicht singt „Weil ein Schwarzer hässlich ist“, sondern „Weil ein Alter hässlich ist“. Damit geht es nicht gegen eine Minderheit, sondern gegen die Mehrheit im Saal. Seltsame Logik.

Noch direkter ging es kürzlich gegen die Oper Frankfurt zur Sache. Hier konnte eine Grünen-Politikerin nicht ertragen, dass auf der Weltuntergangs-Party in Ligetis „Großem Makabren“ neben allerlei welthistorischer Verbrecherprominenz auch der ägyptische Totengott Anubis auftauchte und nicht nur seine schwarze Seele, sondern auch seine schwarze Haut zu Markte trug. Dass eine nicht unter den Zuschauern gesichtete Politikerin dessen Verbannung forderte, wurde selbst zur Steigerungsform des Operntitels, zur Ganz großen Makabren! Zum Glück hat die Oper Frankfurt einen Intendanten, der anerkanntermaßen weiß, was er tut und wie man mit derartigen Querschüssen umgeht. Aber so souverän wie Bernd Loebe ist nicht jeder seiner Amtskollegen.

Sind das wirklich Auseinandersetzungen mit rassistischen Stereotypen? Oder ist es nicht doch nur eine Ärgervermeidungsstrategie? Besonders bei jüngeren (auch wirklich guten und ambitionierten) Intendanten und Regisseuren lauert hier eine echte Gefahr von Selbstzensur!

Wo auf der Bühne ein identitäres Absurdistan erscheint, wird Freiheit der Kunst zur Fata Morgana. Wenn weiter so rückwärts durchkorrigiert und gewarnt wird, landen wir eines Tages beim „O*-Wort“ fürs Genre. Weil sich niemand mehr zu Oper und Operette zu bekennen wagt. Wegen ihrer ach so gefährlichen Nebenwirkungen!