26. Jahrgang | Nummer 26 | 18. Dezember 2023

Sprechen wir über Satelliten …

von Peter Linke, zz. Almaty

Seit kurzem redet alle Welt erneut viel über die nukleare Gefahr. Aber kaum einer spricht über Satelliten: Mehr als 8000 sollen derzeit über unseren Köpfen kreisen. 4500 davon gehören wahrscheinlich den USA, fast 600 China, ungefähr 160 Russland, rund 120 Indien, um die 100 Japan, zirka 90 Frankreich. Unser aller Alltag ist ohne Satelliten kaum vorstellbar. Aber auch die Streitkräfte vieler Länder würden ohne Hilfe aus dem All kaum noch funktionieren. Daher sind Satelliten ein zunehmend umkämpftes Feld – technologisch ebenso wie rhetorisch.

Im April 2022 erklärte Kamala Harris, US-Vizepräsidentin und Vorsitzende des Nationalen Weltraumrates, ihr Land werde künftig auf „destruktive Anti-Satelliten-(ASAT)-Tests“ verzichten: Russland und China hätten 2021 bzw. 2007 derart „ruchlose“ Tests durchgeführt und dabei massenhaft Weltraumschrott produziert.

Einer von den US Ende 2022 in die UNO eingebrachten Resolution über ein Verbot derartiger Tests haben sich inzwischen mehr als 150 Länder, darunter alle 27 EU-Staaten, angeschlossen.

Neu sind solche Tests freilich nicht. Es gibt sie faktisch seit den Zeiten des Sputnik-Fluges. Waren es bis Ende des 20. Jahrhunderts die beiden „Weltraum-Supermächte“ USA und Sowjetunion, die sich dabei gegenseitig nichts geschenkt haben, sind in den letzten Jahren neue Akteure hinzugekommen: China, Indien (dessen Anti-Satellitentest von 2019 Frau Harris seltsamerweise nicht erwähnenswert fand); andere wiederum sitzen in den Startlöchern: Frankreich, Japan, Südkorea.

Die Ansätze, die dabei werden, sind ebenso vielfältig wie abenteuerlich: von diversen land-, luft- und weltraumgestützten nuklearen Optionen, über „kinetische“ Maßnahmen (Abfangen feindlicher Satelliten durch Direkttreffer) bis hin zu „nicht-kinetischen“ Aktionen (Blenden durch Laserbeschuss, elektronische Störmaßnahmen, Cyberangriffe).

Vieles davon ist Stückwerk geblieben. Etwa die Projekte der US-Luftwaffe Bold Orion und High Virgo – Versuche aus den späten 1950er Jahren, luftgestützte nuklearbestückte ballistische Raketen von strategischen Bombern auf Satelliten abzufeuern. Anderes ist nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt. Wie der Kernwaffenhöhentest Starfish Prime vom Juli 1962, der eigentlich nur Aufschluss darüber geben sollte, wie der sogenannte elektromagnetischen Puls für Anti-Satellitenwaffen nutzbar gemacht werden kann, jedoch derart aus dem Ruder lief, dass nicht nur massenhaft Telefonverbindungen im Testgebiet lahmlegt , sondern auch mehrere Satelliten ausgeknockt wurden.

Die ersten realen Anti-Satelliten-Programme der USA waren die Programme 505 (1962-1966) des US-Heeres, dem das nuklearbestückten Nike-Zeus-Raketensystem zur Satellitenbekämpfung bis zu einer Höhe von 560 km zugrunde lag, sowie das Nachfolgeprogramm 437 (1962-1975) der US-Kriegsmarine basierend auf der thermonuklear bestückten PGM-17 Thor, mit der Satelliten bis zu einer Höhe von 1300 km abgefangen werden konnten.

Die Pleite des Starfish-Prime-Experiments freilich ließ Washingtons frühe Sternenkrieger bereits Anfang der 1960er Jahre verstärkt über nichtnukleare ASAT-Systeme nachsinnen. Etwa im Rahmen das Projekts SAINT (SAtellite INspecTor) – zunächst, Ende der 1950er Jahre, ein Satelliteninspektionsprogramm der US-Luftwaffe zur Aufklärung feindlicher Flugkörper, später der Versuch, eine koorbitale ASAT-Waffe (einen sogenannten Killer-Satelliten) zu schaffen. Erste Tests waren für 1963 geplant; in Dienst gestellt werden sollte SAINT 1967. Der damalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara jedoch war wenig beeindruckt: Zu anfällig, zu langsam, zu teuer! Er beerdigte das Projekt noch 1962.

In der Sowjetunion wiederum hielt man „Satelliteninspektoren“ für eine durchaus tragfähige Idee. Auch Moskau arbeite seit Ende der 1950er an Raketenabwehrkonzepten. Letztlich entschied man sich für ein begrenztes System zum Schutz der Hauptstadt, basierend auf nuklearbestückten Interzeptoren, das in den 1960er Jahren entwickelt und nach 1977 in Dienst gestellt wurde. Noch vor Starfisch Prime war sowjetischen Spezialisten allerdings klar, dass ein derartiges System als Anti-Satellitenwaffe nicht viel taugen würde (wäre doch nicht zuletzt die Gefahr einer „Verstrahlung“ der eigenen Satelliten sehr groß). Vor diesem Hintergrund entwickelte Wladimir Tschelomei (1914-1984), neben Sergei Koroljow (1906-1966) einer der führenden sowjetischen Raketenkonstrukteure, die Idee eines orbitalen Raumfahrzeugs, das sich feindlichen Satelliten nähert, explodiert und so beim Zielobjekt maximalen Schaden anrichtet. Bereits 1960 wurde daraus das Projekt IS (Istrebitel sputnikov – Satellitenjäger). Der erste Prototyp, Poljot-1, flog Ende 1963. Im November 1968 wurde erstmals ein speziell entwickelter Zielsatellit erfolgreich abgefangen. 1973 nahm das System endgültig seine Arbeit auf. Bis Ende der 1970er Jahre wurde es weiter optimiert: seine Reichweite vergrößert und die Angriffszeit verkürzt. Regelmäßige Abfangtests erfolgten bis 1982. Außer Dienst gestellt wurde das System 1993. Und auch, wenn es lange nicht mehr getestet wurde, ist nach Meinung von Experten nicht ausgeschlossen, dass es wieder in Betrieb genommen werden kann.

Mit der Verstetigung der sowjetischen nichtnuklearen ASAT-Architektur begannen auch die US-Amerikaner über neue Ansätze bei der Satellitenabwehr nachzudenken. 1982 präsentierten die US-Luftwaffe das Projekt eines ALMV (eines Air-Launched Miniature Vehicles), bestehend aus einer zweistufigen Rakete, die in großer Höhe von einer F-15 abgeschossen, Satelliten in einer niedrigen Umlaufbahn mit hoher Geschwindigkeit rammen und zerstören bzw. funktionsunfähig machen sollte; diese sogenannte „kinetic-kill“- oder „hit-to-kill“-Strategie hatte gegenüber der „Koorbitalstrategie“ theoretisch zwei entscheidende Vorteile: größere Flexibilität bei der Zielerfassung und erheblich verkürzte Angriffszeiten. Allerdings war sie technisch auch weit anspruchsvoller – einer der Gründe, warum das System nie richtig vom Fleck kam. Letzte Tests gegen orbitale Ziele wurden 1985 durchgeführt. Außerdem, so Weltraumwaffenanalystin Laura Grego hätten sich Vertreter der Luftwaffe an den Unmengen von Weltraumschrott gestoßen, den ein solches System produziere. Sowjetische „Hit-to-kill“-Experimente mit einer MiG-31 liefen dem Vernehmen nach ebenfalls ins Leere.

Groß war die Versuchung, das Problem des Weltraumschrotts durch nicht-kinetische ASAT-Ansätze in den Griff zu bekommen. Mit Ronald Reagans 1983 verkündeter Strategischer Verteidigungsinitiative (SDI) begannen dabei lasergestützte Systeme zunehmend in den Vordergrund zu treten. Zwar sind Laser „wetterfühliger“ als „Hit-to-kill“-Waffen, jedoch lassen sie sich weit besser „regulieren“, ermöglichen verschieden intensive Angriffsoptionen: Während schwache Laser einen Satelliten lediglich „blenden“ oder „blind machen“, können ihn starke Laser beschädigen oder gar zerstören.

Seit Anfang der 1980er Jahre experimentiert die US-Kriegsmarine mit MIRACL, einem chemische Dauerstrichlaser der Megawattklasse. Letzte reale Satellitentests fanden 1997 statt. Seitdem wird mit verbesserter Spiegeltechnik an seiner Fähigkeit gearbeitet, Satelliten zu verfolgen.

In der Sowjetunion wurde seit Mitte der 1960er Jahre an Laserwaffen geforscht. Federführend war dabei das Zentrale Konstruktionsbüro „Almaz“. Ihr wichtigstes Projekt: die fliegende Testplattform A-60 – eine modifizierte Variante des Transportflugzeuges Iljuschin Il-76MD, ausgestattet mit einem starken Laser. Von 1983 bis 1987 durchlief die A-60 einen kompletten Testzyklus im Rahmen des Antiraketenprogramms Terra-3, dessen terrestrische Komponente mit zwei Lasern (einem Festkörper- und einem gasdynamischen Laser) im kasachischen Saryschagan untergebracht war.

Dem Vernehmen nach versucht Russland seit rund zehn Jahren, mit dem Projekt Sokol-Eschelon der A-60 neues Leben einzuhauchen. Mit Kalina und Peresvjet scheint Russland über zwei Lasersysteme zu verfügen, die strategische wichtige Teile des Landes vor allzu neugierigen Blicken aus dem All zu schützen vermögen.

Weltraumgestützte Lasersysteme hingegen sind trotz aller SDI-Rhetorik bis heute wohl weitestgehend Science Fiction geblieben: Projekt Zenith Star blieb in den 1980ern ebenso am Boden wie dessen Nachfolger SBL-IFX (Space Based Laser – Integrated Flight eXperiment) Anfang der 2000er. Die Sowjetunion scheiterte ihrerseits 1987 an dem Versuch, mit Poljus eine erste Laserwaffenplattform direkt im All zu platzieren.

Aber entsprechende Forschungen werden hartnäckig vorangetrieben, auch wenn viele technische Fragen scheinbar noch nicht einmal im Ansatz geklärt sind. Etwa die Frage, woher denn die gewaltigen Energiemengen kommen sollen, die zum Betreiben derartiger Systeme erforderlich sind.

Weiterer Schwerpunkt gegenwärtiger ASAT-Waffenforschung sind Technologien der elektronischen Kampfführung, auf die insbesondere Russland zu setzen scheint. So sollen für die Störung des Satellitennetzwerks Starlink in der Ukraine Russlands neueste elektronische Störsysteme Tirada bzw. Tobol verantwortlich sein.

Ebenfalls von großem Interesse: selbstständig manövrierende Satelliten, die sich ungefragt Zielobjekten nähern. Ihre Erforschung stand im Mittelpunkt des NASA-Projekts DART (Demonstration for Autonomous Rendezvous Technology) bzw. seines militärischen Pendants XSS 11 (eXperimental Satellite System 11) der US-Luftwaffe.

Schließlich und endlich scheinen wir eine Renaissance des sogenannten Raumflugzeugs zu erleben: 60 Jahre nach Boeings X-20 Dyna-Soar, 45 Jahre nach Mikojan Gurewitschs MiG-105 Spiral, 35 Jahre nach Energija-Buran und 12 Jahre nach dem Space Shuttle testet die US-Luftwaffe mit der Boeing X-37 gegenwärtig einen neuartigen Raumgleiter, der nicht zuletzt vollkommen neue Formen der Satellitensabotage ermöglichen dürfte.

In Anbetracht des oben Dargelegten können Washingtons Anti-ASAT-Initiativen nicht anders als perfide bezeichnet werden: Angesichts der Breite und Vielschichtigkeit, wie sie die ASAT-Waffenforschung über die letzten Jahrzehnten an den Tag gelegt hat, greifen Forderungen nach einem Verbot lediglich „destruktiver“ Tests mehr als zu kurz. Es sei denn, es handelt sich dabei um den läppischen Versuch, den diesbezüglich erzielten Vorsprung zu zementieren und damit die eigene militärische Dominanz über den ultimativen „High Ground“ auf Jahrzehnte hinaus zu sichern!