27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Georgiens vergessene Revolution

von Wladislaw Hedeler

Die auf 2017 folgenden 100sten Jahrestage und Jubiläen boten immer wieder Gelegenheit, an Ereignisse oder Persönlichkeiten der internationalen Arbeiterbewegung zu erinnern. Erwähnt seien die Februarrevolution 1917 in Russland, die Gründung der Komintern 1919, Julius Martows (1873-1922) Leben und Werk, der deutsche Oktober 1923, Lenins Tod 1924. Der Einmarsch der Roten Armee in Georgien 1921 und die Zerschlagung der Demokratischen Republik sollten in dieser Aufzählung nicht fehlen.

Eric Lees Buch, Verlag und Übersetzer sei Dank, trägt dazu bei, „Georgiens vergessene Revolution“ in Erinnerung zu rufen, eine Wissenslücke zu schließen und Analogien zu Russlands Expansionspolitik und Kriegsführung zu hinterfragen. Um es vorwegzunehmen: Die von Lee dargestellte erfolgreiche Innenpolitik der georgischen Sozialdemokraten und deren Beharren auf nationaler Selbständigkeit liefert eine Erklärung für die von Stalin in den Jahren des Großen Terrors initiierten „nationalen Operationen des NKWD“ gegen mögliche fünfte Kolonnen an der Peripherie Russlands.

Was den in Amerika aufgewachsenen und in der sozialistischen Bewegung verwurzelten Verfasser umtrieb, war die Suche nach praktiziertem demokratischen Sozialismus. Elemente und Variationen gab es in Spanien während des Bürgerkrieges, im „roten Wien“ oder in der Kibbuz-Bewegung. „Doch eine marxistische Partei, die eine demokratisch-sozialistische Revolution in einem ganzen Land realisiert? Mir ist nur ein Beispiel bekannt: Georgien“, schreibt er im Vorwort.

In 16 chronologisch angelegten Kapiteln zeichnet Lee die Entwicklung in Georgien seit 1905 nach, skizziert die Herausbildung freundschaftlicher Kontakte georgischer und deutscher Sozialdemokraten, analysiert die Verankerung georgischer Sozialdemokraten in der Bauernschaft, kommentiert die Reaktionen auf die Demokratisierungsversuche in den angrenzenden Staaten Armenien, Aserbaidshan, Russland und der Türkei und geht auf die Gründe der anfangs gescheiterten Sowjetisierung des Landes ein.

Doch „die Geschichte der Demokratischen Republik Georgien endete nicht mit der Invasion der Roten Armee im Jahr 1921“. Das Buch endet mit dem Verweis auf die „letzte Schlacht“, den niedergeschlagenen Volksaufstand im August 1924. Etliche führende Sozialdemokraten gingen ins Exil, einfache Parteimitglieder traten in der Hoffnung, auf diese Weise der Verfolgung zu entgehen, in die Kommunistische Partei Georgiens ein. Das kleine Georgien, hebt Lee hervor, verfügte nicht über die Ressourcen von Finnland oder Polen, die sich gegen den Aggressor verteidigen konnten.

Lenins Verurteilung des „menschewistisch-demokratischen Kapitalismus“ in Estland und Georgien erläutert Lee im Regelfall unter Rückgriff auf Leo Trotzkis Schriften. Hier erwiesen sich offenbar mangelnde Kenntnisse des Russischen als Sprachbarriere des Verfassers und als bedauerlicherweise nicht überwundenes Hindernis. Denn die letzten vier Bände der Ausgabe „W. I. Lenin. Biografische Chronik“ (Moskau 1978-1982) und Band 1 der Protokolle der Politbürositzungen des ZK (Moskau 2000), um nur zwei in russischer Sprache erschienene Quelleneditionen zu nennen, gestatten eine tagesgenaue Bestimmung der Positionen und Anweisungen Lenins und von deren Auslegung in der Sekundärliteratur.

Lees Fazit: „Die Ideale des demokratischen Sozialismus, einer faireren, sozial gerechteren und freieren Gesellschaft sind immer noch sehr mächtig. Dennoch fragen sich sehr viele Menschen, ob eine solche Gesellschaft Realität werden könnte. In Anlehnung an einen Engels-Ausspruch über die Pariser Kommune kann man ihnen antworten: Wollt ihr wissen, wie dieser demokratische Sozialismus aussieht? Schaut euch das georgische Experiment an. Das war demokratischer Sozialismus.“

Das mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung gedruckte Buch sei allen empfohlen, die über eine mögliche alternative Gesellschaftsentwicklung nachdenken oder bemüht sind, eine Erklärung für die sowjetische oder russische Expansionspolitik zu finden.

 

Eric Lee: Das Experiment. Georgiens vergessene Revolution 1918-1921 (aus dem Englischen übertragen von Günter Regneri), Metropol Verlag, Berlin 2023, 232 Seiten, 24,00 Euro.