Die Nebelwolken, die von der offiziellen Propaganda über das Geschehen im Gaza-Streifen gelegt werden, bekommen Löcher und reichen nicht mehr, die Realitäten zu kaschieren. So ist ein neues Bemühen um Kartierung der Kriegsverläufe angesagt.
Der mörderische, terroristische Angriff von Hamas-Kämpfern auf israelische Zivilpersonen, auch Frauen, Kinder und Greise, am 7. Oktober 2023 wurde von der Hamas im Gaza-Streifen vorbereitet und geführt. Hier ist noch einmal an den Hinweis von Herfried Münkler in seinem Buch über „Die neuen Kriege“ (2002) zu erinnern: „Der Pilot eines Kampfbombers oder die Besatzung eines Kriegsschiffes, von dem aus Tomahawk-Raketen abgefeuert werden, befinden sich außerhalb der Reichweite gegnerischer Waffen. Der Krieg hat hier alle Charakteristika der klassischen Duellsituation verloren und sich, zynisch gesagt, gewissen Formen von Schädlingsbekämpfung angenähert.“ Da die militärisch-technische Überlegenheit der „Schädlingsbekämpfer“ offensichtlich und uneinholbar ist, kann eine militärische Gegen-Aktion am Ende nur im terroristischen Meuchelmord bestehen: Die einen morden mit den neuesten technischen Mitteln und inzwischen unter Nutzung der „künstlichen Intelligenz“, die anderen atavistisch mit der Hand.
In diesem Sinne entsprechen die Hamas-Leute weithin den Kriterien des „Partisanen“, wie ihn Herfried Münkler in Anlehnung an Carl Schmitt als Gestalt des asymmetrischen Krieges 1990 beschrieben hat. Gewalttätige Verbrechen gegen zivile Angehörige der als „Kolonialmacht“ angesehenen Bevölkerung sind Teil einer solchen asymmetrischen Kriegsführung, die von beiden Seiten mit äußerster Gewalttätigkeit geführt wird. Die wechselseitige Brutalität des Kampfes der Hamas und der israelischen Streitkräfte erfüllt das Kriterium der „totalen Entwertung des Feindes“, das Carl Schmitt 1963 besonders hervorgehoben hatte: „In einer Welt, in der sich die Partner […] gegenseitig in den Abgrund der totalen Entwertung hineinstoßen, bevor sie sich physisch vernichten, müssen neue Arten der absoluten Feindschaft entstehen. Die Feindschaft wird so furchtbar werden, dass man vielleicht nicht einmal mehr von Feind oder Feindschaft sprechen darf und beides sogar in aller Form vorher geächtet und verdammt wird, bevor das Vernichtungswerk beginnen kann. Die Vernichtung wird dann ganz abstrakt und ganz absolut. Sie richten sich überhaupt nicht mehr gegen einen Feind, sondern dient nur noch einer angeblich objektiven Durchsetzung höchster Werte, für die angeblich kein Preis zu hoch ist. Erst die Ablehnung der wirklichen Feindschaft macht die Bahn frei für das Vernichtungswerk einer absoluten Feindschaft.“
Nach israelischen Angaben wurden am 7. Oktober 2023 1.200 Israelis ermordet, seither über 5.400 israelische Bürger in den Kämpfen verletzt (de.statista.com, 11.12.2023). Der Sender El Jaseera (Doha) hat am 13. Dezember gemeldet, dass im Gefolge der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen 1,9 Millionen Palästinenser aus ihren Wohnungen und ihren Wohngebieten vertrieben wurden. Es gab 18.600 tote Palästinenser, 50.600 Palästinenser wurden verwundet; 7.729 Kinder und 5.193 Frauen wurden im Gaza-Streifen durch israelische Bombenangriffe und infolge des Bodenkrieges getötet. Gezählt wurden bisher 134 getötete UNO-Mitarbeiter, 300 ermordete Mediziner und 60 tote Medienmitarbeiter, darunter 38 Journalisten. Auf der anderen Seite waren seit Beginn der Bodenoffensive 115 tote israelische Soldaten zu beklagen.
Jacques Baud, Oberst der Schweizer Armee, hatte für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst, die UNO – darunter in unterschiedlichen Friedensmissionen – sowie für die NATO gearbeitet. Er hat zu dem jetzigen Gaza-Krieg betont, dass die Besatzungsmacht „kein Recht auf Selbstverteidigung gegen die Besetzten“ hat. Gemäß Resolution 242 des UNO-Sicherheitsrates von 1967 ist Israel in den palästinensischen Gebieten illegal und eine Besatzungsmacht. Alle durch Israel dort getroffenen Maßnahmen sind null und nichtig und es ist verpflichtet, sich aus diesen Gebieten zurückzuziehen. Damit ist – so Baud – Widerstand gegen die Besatzung legal. Dabei bezieht er sich zugleich auf die Resolution 45/130 (1990) der UNO-Vollversammlung. Die forderte – nach dem Ende des Kalten Krieges und unter Bezugnahme auf die UNO-Deklaration „über die Gewährung der Unabhängigkeit an die kolonialen Länder und Völker“ vom 14. Dezember 1960 – die „universelle Realisierung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung“. Darin geht es um die Beseitigung der damals noch verbliebenen Kolonialregimes, so des Apartheid-Regimes in Südafrika, in Namibia und auf den Komoren. Explizit genannt wird aber auch Palästina: Das palästinensische Volk habe „das unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung, Souveränität, Unabhängigkeit und auf die Rückkehr nach Palästina“. Das schließe – hier wieder verallgemeinert – „die Legitimität des Kampfes der Völker für Unabhängigkeit, territoriale Integrität, nationale Einheit und Befreiung von kolonialer Herrschaft, Apartheid und ausländischer Besetzung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ein, einschließlich dem bewaffneten Kampf“.
Die Baud’sche Argumentation ist eine strikt völkerrechtliche. Die Verurteilung der Mordaktionen der Hamas-Kämpfer am 7. Oktober ist eine moralische. Sie darf aber das Ausmaß der Kriegsaktionen der israelischen Streitkräfte, die sich inzwischen gegen die zwei Millionen Einwohner des Gaza-Streifens insgesamt richten und in keinerlei Verhältnis zu den Verbrechen am 7. Oktober stehen, nicht kaschieren. Baud betont: „Würde – ironischerweise – Israel die Existenz eines palästinensischen Staates anerkennen, könnte es einen Verteidigungskrieg gegen ihn führen. Israels international anerkannter Status ist jedoch der einer Besatzungsmacht, und als solche ist es seine Verantwortung, die palästinensische Bevölkerung zu schützen, nicht sie zu zerstören.“
Nachdem frühere Beschlüsse des UNO-Sicherheitsrates durch Veto der USA verhindert wurden, kam der am 15. November endlich zu einer Resolution. Sie verlangte „dringende und ausgedehnte humanitäre Pausen und Korridore im gesamten Gazastreifen für eine ausreichende Anzahl von Tagen“, um humanitäre Hilfe zu gewährleisten, und formulierte „tiefe Besorgnis über die humanitäre Lage im Gazastreifen und ihre schwerwiegenden Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, insbesondere die unverhältnismäßigen Auswirkungen auf Kinder“. Alle Beteiligten wurden zur Einhaltung des Völkerrechts aufgefordert, eine „Zwangsumsiedlung der Zivilbevölkerung“ wurde abgelehnt, lebensnotwendige Dienste dürften den Menschen nicht vorenthalten werden.
Die USA verzichteten auf ein Veto, sie enthielten sich, wie auch Großbritannien und Russland, die anderen zwölf Ratsmitglieder – auch China und Frankreich – stimmten zu. Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates sind völkerrechtlich bindend. Die zeitweilige Waffenruhe hielt jedoch nur einige Tage, am 1. Dezember wurden die Kriegshandlungen wieder aufgenommen. Eine Resolution des UNO-Sicherheitsrates für einen dauerhaften Waffenstillstand scheiterte am 8. Dezember am Veto der USA; 13 Rats-Mitglieder stimmten dafür, Großbritannien enthielt sich.
Am 12. Dezember forderte die UNO-Vollversammlung einen sofortigen humanitären Waffenstillstand. Von den 193 UNO-Mitgliedsstaaten stimmten 153 Länder dafür; zehn dagegen, darunter Israel und die USA; 23 enthielten sich, darunter Deutschland und Großbritannien. Die EU hatte keine gemeinsame Position: Frankreich und Griechenland stimmten für die Resolution, Österreich dagegen. Am Ende zeigt sich an dieser Abstimmung, dass die Weltverhältnisse nicht mehr den Vorstellungen des Westens folgen.
Schlagwörter: Gaza-Krieg, Israel, Jaques Baud, Palästina, Peter Petras, Völkerrecht