Die Casa Rosada, Sitz der argentinischen Regierung, war am 10. Dezember Schauplatz der Einführung des neu gewählten Präsidenten Javier Milei. Argentinien steht vor einem politischen Wechsel, mit dem offene Fragen und viele Ungewissheiten verbunden sind. Politisch ist Milei ein Newcomer, der mit seiner Partei „Die Freiheit schreitet voran“ (La Libertad Avanza) im Kongress über keine Mehrheit verfügt. Ein Ausweg für den ultraliberalen Milei ist eine Allianz mit der traditionellen Rechten, die ihn im Wahlkampf unterstützte.
Milei hatte am 19. November 2023 mit 55,7 Prozent gegen 44,3 Prozent für den perónistischen Kandidaten, den jetzigen Wirtschaftsminister der Regierung Fernández, Sergio Massa, den zweiten Wahlgang für sich entschieden. Noch im ersten Wahlgang hatte Massa, mit 36,7 Prozent vorn gelegen. Mileis „La Libertad Avanza“ kam nur auf 30 Prozent. Im zweiten Wahlgang erzielte die neoliberale Rechte mit Patricia Bullrich und Marcri „Gemeinsam für den Wechsel“ 23 Prozent. Für die “Linke Front” stimmten 2,7 Prozent.
An der Amtseinführung Mileis nahmen lateinamerikanische Präsidenten Uruguays, Ecuadors, Paraguays, sowie Viktor Orbán (Ungarn), Wolodymyr Selenskyj (Ukraine), König Felipe VI. (Spanien) teil. Präsident Lula da Silva(Brasilien) ließ sich durch seinen Außenminister Mauro Vieira vertreten. Ein Versuch des Ex-Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, gemeinsam mit anderen Gästen auf einem Gruppenbild zu posieren, wurde verhindert.
Vor der Amtsübernahme reiste Milei in die USA, um sich für sein ultraliberales Programm Rückendeckung zu holen. So waren seine ersten Dekrete keine Überraschung. Die Anzahl der Ministerien wird von achtzehn auf neun reduziert. Geschlossen werden die Ministerien für Erziehung, Arbeit, Kultur und Menschenrechte. Neu ist das Ministerium Humankapital, in das die aufgelösten eingehen werden. Wirtschaftliche Sofortmaßnahmen sind der Wegfall der Finanzierung öffentlicher Vorhaben, die Liberalisierung der Preise für Treibstoffe, die Privatisierung von staatlichen Unternehmen, die Revision von Sozial- und Rentenprogrammen und eine Arbeitsreform.
In seiner ersten Rede vor dem Nationalkongress sprach Milei von einer „harten Steueranpassung“, sodass sich die „Situation verschlechtern“ werde. Dazu gäbe es keine Alternative! Aber es beginne eine Phase „des Wiederaufbau Argentiniens“. Der Privatsektor werde von diesen Maßnahmen nicht betroffen. Das alte Modell, das das Leben des Individuums auf allen Gebieten bestimmt habe, sei tot. Milei schloss mit seinem Wahlslogan: „Es lebe die Freiheit, carajo!“
Der Wahlsieg Mileis rief in Argentinien und Lateinamerika eine breite Debatte hervor. Die einen konzentrieren sie auf die Person Mileis, die anderen vergleichen ihn mit dem Ex-Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro. Oder er wird in sehr einfacher Weise als Dummkopf eingeordnet.
Realität ist, dass sich konservative Kräfte für Milei als geeigneten Kandidaten entschieden haben. Gemeinsam mit traditionellen Parteien wie die des Ex-Präsidenten Mauricio Macri „Gemeinsam für den Wechsel“ setzten sie auf Mileis „Die Freiheit schreitet voran“. Unter diesen sind die Chefs des argentinischen Unternehmens Techint (Mischkonzern im Bauwesen und Stahlproduktion), des FIAT-Konzerns, der größten Agrarunternehmen, kontrolliert von multinationalen Unternehmen, des Energiesektors, u.a. von Frackingunternehmen und des extraktiven Bergbaus (Gold, Lithium) zu finden. Ex-Präsident Macri sieht im Zusammengehen mit Milei eine Chance, Einfluss zu nehmen und seine Politik durchzusetzen. Macri könnte so der eigentliche Gewinner der Wahl werden.
Das neoliberale Paket Mileis enthält weitere einschneidende Maßnahmen: Privatisierung der Aerolíneas Argentinas, Deregulierung des Steuersystems und weniger Mittel für die Provinzen. Vorgesehen ist die Dollarisierung der Wirtschaft, die allerdings ohne Dollarreserven nicht möglich ist. Dafür sucht er Unterstützung bei Black Rock und der Bank of America. Für Kredite bietet er die Privatisierung der Yacimientos Petrolíferos Fiscales (Staatliche Erdölvorkommen) und des weltweit zweitgrößten Ölschieferfeldes der Welt, die „Vaca Muerta“ (Tote Kuh), an. Die Produktivität dieses Vorkommens ist mit einem Haushaltsüberschuss von 17 Millionen US-Dollar sehr hoch. Zur Vorbereitung des Verkaufs hat er bereits einen Verhandlungsführer aus der Techint-Gruppe benannt.
Die Inflation kann noch in diesem Jahr weiter ansteigen. Die mit dem IWF vereinbarten Maßnahmen sollen ein Haushaltsüberschuss erzielen, mit dem die externen Verpflichtungen beglichen werden. Die Abwertung des Peso um 50 Prozent (ein Dollar zu 800 Peso) führt zu erheblichen Preisteigerungen (Treibstoffe um 37 Prozent). Mit steigenden Arbeitslosenzahlen ist zu rechnen, besonders im öffentlichen Bauwesen.
Milei strebt nach einer dominanten Exekutive, um sowohl die Legislative wie auch die Judikative zu schwächen. Sein Ziel ist die Errichtung eines autoritären Präsidialsystems. Verbunden damit ist die Durchsetzung eines neoliberalen Modells, das die Macht der Eliten festigt, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen schwächt und demokratische Errungenschaften beseitigt.
Seine Regierung, an der Politiker Macris beteiligt sind, hat die Unterstützung rechter Militärs. Die gewählte Vizepräsidentin Victoria Villarruel verteidigt die Militärdiktatur (1976-1983). Ihre Familie hatte während der Millitärdiktatur Positionen im Repressionsapparat inne. Villarruel verfügt über Verbindungen zur internationalen Rechten wie der spanischen Vox. Macris Ex-Ministerin Patricia Bullrich wird Innenministerin der Regierung Milei. Die Außenministerin, Diana Mondino, ist Ökonomin und mit internationalen Unternehmen vernetzt, wie Standard & Poors, Loma Negra und Pampa Energía. Sie spricht sich für die Privatisierung staatlicher Unternehmen, den Verkauf menschlicher Organe und der Malvinas (Falklandinseln) aus.
Mit diesen Entwicklungen hat sich in Argentinien das Kräfteverhältnis zwischen dem linken Perónismus und der politischen Rechten extrem verschoben. Linke Kräfte waren nicht in der Lage, die politischen und kulturellen Veränderungen adäquat zu erkennen, was das Aufkommen des ultrarechten Milei beförderte. Der Sieg Mileis ist eine historische Niederlage der argentinischen Demokratie 40 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur. Der Perónismus scheiterte angesichts des wirtschaftlichen Desasters. Proteste und Gegenbewegungen blieben wirkungslos.
Milei wurde von vor allem von Jugendlichen, von Teilen der Mittelklasse und von besser Situierten mit höherem Bildungsniveau gewählt. Vereint sind sie in der Abneigung gegen „die politische Kaste“ und deren interne Parteikämpfe, die keine Lösung der Probleme des Landes ermöglichten. Mileis Kapital ist sein aggressiver Diskurs und sein überbordender Liberalismus.
Gegenwärtig leben 40 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Laut einer Studie der Unternehmeruniversität haben 75 Prozent der Jugendlichen zwischen 16 und 24 Jahren das Land verlassen. Der alltägliche Kampf des Einzelnen ums Überleben hat eine allgemeine Müdigkeit hervorgerufen. Für die arbeitenden Menschen entsteht eine Situation zwischen Illusion und Tragödie.
Außenpolitisch wird Milei sich auf die USA und Israel konzentrieren. Schon im Wahlkampf hatte er China attackiert. Allerdings hängt das Land stark vom Handelsaustausch mit China ab. China wird pragmatisch die Entwicklung der Beziehungen zu Argentinien fortsetzen. Argentinien hatte sich sowohl der Entwicklungsbank der BRICS-Staaten und 2020 der Asienbank für Investitionen angeschlossen.
Auf die Attacken Mileis gegen Lula („wütender Kommunist“ und „Dieb“) wurde in Brasilien mit großer Besorgnis reagiert. Die zunehmend enge Verflechtung zwischen Brasilien und Argentinien wird infrage gestellt. Die von Präsident Lula erreichte Ankoppelung Argentiniens an die BRICS-Staaten steht zur Disposition. Offen ist die Haltung der Milei-Regierung zum MERCOSUR (Gemeinsamer Markt des Südens, Lateinamerika) wie auch zur UNASUR (Union der Staaten Südamerikas) und der CELAC (Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik).
Die Wahl Mileis nährt in Lateinamerika Befürchtungen einer Rückkehr in die Zeiten der Militärdiktaturen. Die argentinische Wahl fällt zusammen mit politischen Krisen in Ländern wie Bolivien, Peru und Ecuador. Anstehende Wahlen in El Salvador, Panama, Venezuela und Mexiko werden über die weitere Entwicklung auf dem lateinamerikanischen Kontinent entscheiden, darüber in welche Richtung er sich bewegen wird. Die Gefahr der weiteren Radikalisierung der lateinamerikanischen Rechten bleibt bestehen.
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