26. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2023

Vater und Sohn im Jahrhundertwirbel

von Jürgen Hauschke

Im fortgeschrittenen Lebensalter haben viele Menschen das Bedürfnis nach einem Rückblick; sie denken über ihr Leben nach und möchten es in seiner Gänze wertschätzen und als sinnvoll verstehen. Die Beschreibung eröffnet auch die Möglichkeit nachträglicher Konstruktion einer bestimmten Sinnhaftigkeit des dargestellten Lebens. Im Wortsinn bedeutet Biografie das „Aufschreiben des Lebens“. Eine Besonderheit biografischer Texte sind Autobiografien, zu denen die Memoiren gehören. Dabei liegt die Gewichtung häufig mehr auf den herausragenden, für eine breite Öffentlichkeit interessanten Ereignissen und der Autor wirft einen erweiterten Blick auf daran beteiligte Personen.

Der Historiker Hans-Erich Sonnet publizierte kürzlich im Bäßler-Verlag seine „Erinnerungen“. Titelgebender Gegenstand ist das 20. Jahrhundert. Auf dem in Grau- und Weißtönen gehaltenen Buchcover sieht man einen nachdenklich nach unten schauenden Mann in sitzender Haltung, bekleidet mit einer Uniformjacke der deutschen Wehrmacht. Ins Auge fallen auf der linken Brustseite zwei Abzeichen. Man sieht sofort das Eiserne Kreuz. Am Arm trägt der junge Mann eine Binde, auf der in Frakturschrift die Worte „Freies Deutschland“ zu erkennen sind. Der mit entsprechendem historischen Wissen versehene Betrachter weiß, dass das zweite Abzeichen das im Juni 1940 gestiftete allgemeine Sturmabzeichen sein muss und dass die schwarz-weiß-rote Armbinde ein Kennzeichen des 1943 in der Sowjetunion von deutschen Antifaschisten und Kriegsgefangenen gegründeten Nationalkomitees „Freies Deutschland“ war.

Das Foto gibt eine Tonlage des Buches vor. Ursprünglich wollte Sonnet eine Biografie seines auf dem Cover abgebildeten Vaters schreiben. Doch bald weitete sich das Unternehmen aus und auch sein eigenes Leben geriet in den Fokus. Wenn man so will, eine um die Biografie des Vaters erweiterte Autobiografie.

In den Vorbemerkungen schreibt der Autor, „die flapsige Bemerkung des ‚Automobilkönigs‘ Henry Ford, dass Geschichte ‚Quatsch‘ sei“, lasse angesichts des 20. Jahrhunderts „wenig Verständnis aufkommen“. Der Blick auf die persönlichen Erfahrungen dient ihm auch als Korrektiv zur „Praxis zeitweiliger Sieger der Geschichte, Deutungs-Hoheit zu beanspruchen, getönte Brillengläser zu verteilen, Vergangenes nicht nur zur ‚Magd der Philosophie‘ (Michel Fourcault [sic]), sondern zur Hure eigener Politik zu machen“.

Sonnet erzählt chronologisch. Er tritt „auf der Reise zu sich selbst (mit der Erfahrung von gestern und dem Wissen von heute) selbstkritisch neben sich“. Das hat für den Leser einen erfreulichen Effekt: „Die Nutzung der ‚dritten Person‘ kann dabei wie Kommentare und Randglossen für gebührenden Abstand sorgen.“ Diese Absicht des Autors geht auf.

Der Vater war Württemberger Schwabe mit französischen Wurzeln. Erich Sonnet (1913-1989) studierte an der TH Stuttgart. Ende 1934 erschien dem katholisch erzogenen jungen Ingenieur, der mit den gerade an die Macht gekommenen Faschisten nichts gemein hatte, eine Anstellung in der offiziell überparteilichen, „aufrichtigen“ Reichswehr erstrebenswert. Geplant war eine friedliche Ingenieurlaufbahn im Pionierwesen. Wenige Jahre später spülte ihn die Marschrichtung „Harmagedon“ an die Wolga. Mitten im Zentrum von Stalingrad kam der vom Krieg desillusionierte Hauptmann als Kommandeur des 295. Pionier-Bataillons Ende Januar 1943 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Seit der erbarmungslosen Schlacht um Stalingrad gab es für den Katholiken nur noch die „Illusion Gott“. In der Gefangenschaft kam er in Kontakt mit Antifaschisten, insbesondere ein anderer Schwabe beeinflusste ihn, der war Arzt, Schriftsteller und KPD-Mitglied. Mit Dr. Friedrich Wolf kam er nicht nur wegen der landsmannschaftlichen Gemeinsamkeiten gut zurecht. Im Sommer 1943 wurde Sonnet „faktisch Mitbegründer“ der Bewegung „Freies Deutschland“. An der Narwa bei Leningrad entstand das oben beschriebene Foto, im Zusammenhang mit einem Einsatz als Frontbeauftragter des Nationalkomitees Freies Deutschland.

Über die Gruppe Walter Ulbricht ist viel geschrieben worden. Zehn exilierte Kommunisten und zehn Antifaschisten des NKFD flogen in den letzten Kriegstagen in einem sowjetischen Armeeflugzeug Richtung Berlin, um eine antifaschistische Entwicklung Deutschlands einzuleiten und den Wiederaufbau zu organisieren. Neben dieser Gruppe gab es noch zwei weitere mit jeweils zwanzig Personen: die Gruppe Anton Ackermann, zu der auch Erich Sonnet gehörte, und die Gruppe Gustav Sobottka. Am 1. Mai 1945 landete Sonnet im niederschlesischen Sagan mit dem Ziel Lausitz. Nach Kriegsende wurde er stellvertretender Oberlandrat in Cottbus, anschließend Oberbürgermeister von Guben. Mit der Gründung der Kasernierten Volkspolizei und danach der NVA wechselte Erich Sonnet in den Militärdienst der DDR. Dort war er zuletzt ab 1956 im Strausberger Ministerium für Nationale Verteidigung als Oberst „Chef Pionierwesen der NVA“. Der Beschluss des Politbüros der SED vom Februar 1957, ehemalige Wehrmachtsoffiziere aus der NVA zu entlassen – ein Ergebnis der ideologischen Auseinandersetzung im Kalten Krieg – bedeutete 1959 die Versetzung in die Reserve. Erich Sonnet leitete bis zur Rente den VEB Pyrotechnik, die Silberhütter „Pulvermühle“.

Im August 1946, die junge Familie lebte noch in Cottbus, wurde der Verfasser des Textes, Hans-Erich Sonnet geboren. Seine Entwicklung soll hier nicht referiert werden. Nur einige skizzenhafte Stichworte: Lehrerstudium Geschichte und Deutsch an der Pädagogischen Hochschule in Potsdam, Familiengründung, Lehrer, Wehrdienst, 1976 Promotion zur neueren Geschichte Frankreichs. 1978 „Delegierung“ an das Ministerium für Volksbildung in die Hauptabteilung Lehrerbildung, dort zunächst verantwortlich für die Geschichtslehrerausbildung, dann als Abteilungsleiter für Gesellschaftwissenschaften. Immer wieder scheitern Versuche, in die Wissenschaft zurückzukehren. Das gelingt erst 1990. Nur sind reale Entwicklungsmöglichkeiten in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft für jemanden, der zwölf Jahre bei Hofe für Margot Honecker gearbeitet hatte, jetzt perdu. Hans-Erich Sonnet arbeitet bis zur Rente im Schulbuchbereich, bleibt politisch links aktiv. Dabei zeichnet ihn auch schon bei Hofe eine intellektuell tolerante Haltung aus, die ihre marxistischen Wurzeln nicht vergisst.

Das alles ist mit vielen biografischen und historischen Details erzählt. Wer weiß zum Beispiel heute noch etwas über die „Geothermische Heizzentrale“ in den 1980er Jahren in Neubrandenburg. Diverse Interna aus den Abläufen im Volksbildungsministerium sind lesenswert. Einen besonderen Reiz des Buches macht der scharfe und aufmerksame Blick über den privaten Tellerrand aus.

Die Genrebezeichnung „Erinnerungen“ ist nur als Understatement zu verstehen. Der Autor zoomt von der privaten Sphäre in die deutsche Geschichte – Ost wie West –, in die europäische und in die Weltgeschichte. Dann wird die Blende wieder verengt, bevor sie erneut aufgezogen wird. Es ergibt sich ein stetiger Lesefluss, ein Sog in den Strudel des 20. Jahrhunderts. Sonnets Blick ist kritisch auf die eigene – private wie politische – Entwicklung im Osten Deutschlands. Der Leser ist stets eingeladen, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Unbedingt zuzustimmen ist dem Rat des Autors, „dass die Tugend ‚menschliche Bescheidenheit‘ endlich der Vergessenheit entrissen werden sollte.“

Ein Lektor hätte dem Text gutgetan. Bei der Fülle von Fakten vereinzelt unkorrekte Daten, mitunter Falschschreibung von Namen oder sprachliche Ausrutscher wären vermeidbar gewesen. Offenbar verursachte Zeitdruck besonders auf den letzten 50 Seiten orthographische und schreibtechnische Fehler. Ein ärgerlicher Mangel, der sich durch den Text zieht, ist der an Absätzen. Auf zwei Druckseiten lediglich einen zu finden, ist unfreundlich gegenüber dem Leser.

Dennoch gilt das bereits Gesagte – dem sehr gut lesbaren Buch meine absolute Leseempfehlung für an der deutschen Geschichte des 20.Jahrhunderts Interessierte.

Hans-Erich Sonnet: Im Strudel des 20. Jahrhunderts. Erinnerungen. Bäßler Verlag, Berlin 2023, 429 Seiten, 21,80 Euro.