26. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2023

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Woyzeck“ – Berliner Ensemble / „Die Weihnachtsfeier“ – Renaissance Theater /
„Zimt und Zauber mit Peter Pan“ – Wintergarten 

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BE: Verzweifelte Aussteigerbande 

An der Rampe ein Tümpel, Schilf und Schlick; auf der Bühne der dunkle deutsche Wald. Tannen bis hoch in den Bühnenhimmel, Zelte, Feuerstätte, ein Anstand für die Jagd. Und in der Mitte ein ordentlicher Hackeklotz. Dort schwingt Woyzeck die Axt, haut wie besessen Baumscheiben klein. Und sich den Frust aus dem Leib: Übers elende Dasein, Ungerechte, überhaupt übers Widerliche der Welt, in der zu leben er nun mal verdammt ist.

Was für ein seltsamer Kerl, dieser Woyzeck: Spindeldürr, aber kraftvoll. Baumlang, mit tiefliegenden Augen, entrückten Blicks; wirr das Haar, filzig der Bart gleich einer Christusfigur. Und wenn er nicht wie verrückt Holz zertrümmert, hockt er in sich gekehrt im Schilf und stiert ins Leere.

Das sich wiederholende Toben mit der Axt, das düstere Brüten am Wasser, die fragile, doch wuchtige Präsenz des faszinierenden Schauspielers Maximilian Diehle – das allein ist schon Sinnbild dieser irritierend stimmungsvollen „Woyzeck“-Inszenierung von Ersan Mondtag. Da wird er beinahe nebensächlich, der Kreuzweg Woyzecks von den Demütigungen durch soziale Verelendung, übergriffige medizinische Experimente, menschenverachtende Herrschaft bis hin zum Verrat seiner fremden Freundin, mit der er ein Kind hat – und die er tötet im blinden Eifer wie im Wahn höherer Gerechtigkeit.

Mondtag, als Regisseur wie Bühnenbildner ein origineller Meister für suggestive Albträume und schreckensstarre Abgründe, entwirft für Georg Büchners sozialpolitisch anklagende, aber auch philosophisch depressive Untergangsgeschichte eines Individuums – ohne sie prinzipiell zu verändern – ein neuartig herausforderndes Setting.

Da ist Woyzeck Glied einer im Wald versteckt hausenden Aussteiger-Kameradschaft; gewisse Zeichen verweisen auf rechtslastigen Widerstand, auf Kampf gegen das kalte Draußen vor dem Wald.

Es herrscht also ein männerbündisches, latent repressives und aggressives, zugleich jedoch Wärme, Schutz und Heimat bietendes geschlossenes System. Woyzeck ist da kein tragisch Einzelner, wie von Büchner signifikant gezeichnet; er versinkt in der Horde.

Deshalb immer alle beisammen im Dunst der Kumpanei. Zünftiges Wildschweinessen, die Plackerei alltäglicher Selbstversorgung, zum Feierabend Bier und Tanz ums Lagerfeuer mit Männergesang zur Blasmusik. Unheimliche Romantik. Testosteron wird ausgeschwitzt bei Schlägereien oder gruppendynamischen Terrorspielen. Denn Frauen gibt es nicht; selbst Marie, die zwar „Marie“ gerufen wird, ist ein bärtiger Kerl (Gerrit Jansen). Und es wird auch, von schüchterner Umarmung abgesehen, nicht „schwul“; ihre Liebelei mit dem Tambourmajor (Max Gindorff) bleibt bloß angedeutet, da genügt ein funkelnder Blick auf sein Geschenk, den Ohrschmuck. Die das Büchner-Drama schließlich ins Tödliche treibende Kraft, nämlich die Macht der Gefühle wie Sexgier Eifersucht, Wut, entfällt.

Mondtag inszeniert kein eskalierendes, messerscharfes „Woyzeck“-Drama, sondern malt in düsteren Farben eine „Woyzeck“-Dystopie. Indem er ein katastrophenhaltiges Zustandsbild erfindet: Eben diesen neurotischen Männerhaufen im unheilvollen Freiraum der Selbstisolation, abgekoppelt vom Gesellschaftlichen, dem Feindlichen. – Nichts ist gut hier, flüstert die breitbeinig aufgeladene Stimmung, wenn Trompeten schmettern und mit viel Liedgut alte oder neue Wunden geleckt werden.

Zum Schluss, der Frauenmord ist fix abgetan, knattern Hubschrauber, kreisen Scheinwerfer, fällt eine Strickleiter herab. Doch keiner steigt auf – und aus. Man kriecht nur umso enger zusammen ums Lagerfeuer am Zeltplatz im vernebelten Mondlicht. Singt und säuft Angst weg.

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Renaissance Theater: Ballermann in der Bank-Bankrott 

Das Kollektiv einer netten kleinen Bankfiliale hat nicht selten was Familiäres an oder in sich. Oder genauer: Was von einer Bande. Familienbande könnte man sagen. Da kennt über die Jahre ein jeder jeden; man arrangiert sich, kooperiert oder kloppt sich.

Wie in dem Jahresend-Stück „Die Weihnachtsfeier“ von Peter Jordan und Leonard Koppelmann, das wirklich jeden erdenklichen Wahn- und Blödsinn semifamiliärer Banden vorführt, von dem man so hört oder von dem man weiß aus einschlägigen Veranstaltungen im Büro oder gar im heimischen Wohnzimmer. Lametta-Loriot lässt beißend grüßen; wir gratulieren an dieser Stelle nachträglich zum 100.!

Also die Happy-Birthday-Jesus-Party einer – wie man zynisch und nicht ganz unzutreffend lästert – Bank-Bankrott. Mit dem zunächst Üblichen: Christmas-CD, Punsch in rauen Mengen, dicke Käse-Igel, Frotzeleien, Tänzchen aufm Schreibtisch, Küsschen aufm Klo und Schlägerei mit der Grünpflanzen-Deko. Rock’n’Roll gibt’s auch, aber später.

Wie gesagt: Man kennt sich; im Drucker-Raum auch ohne Unterwäsche. Doch man kennt sich – Achtung! – nicht genau. Und das ist, vom rasenden schauspielerischen Halligalli abgesehen, der Witz dieser Farce: Ihr Personal, geladen mit beträchtlichen sexuellen und kriminellen Energien, sorgt unentwegt für erstaunliche Überraschungen. Schlägt absurde Volten, dass es nur so knallt in der Ballermann-Klamotte.

Zwischendurch wird reichlich, ob rockig oder sentimental, geträllert und getrötet – fast wie im Musical. Und schnell mal aufgeklärt über das vermeintliche Prinzip Geldinstitut („Bescheißen“), über fragwürdige Digitalisierungen und Rationalisierungen – Vorboten der befürchteten Schließung der feiernden Filiale. Und Auslöser einer Extra-Schlacht der Egoismen: Wer darf bleiben, wer fliegt raus. Die Ekstase treibt einen älteren Mitarbeiter auf die nette die Idee, seinen nackten Hintern auf den Kopierer zu knallen. Pups! – So etwa der Humor.

Ja doch: Sparkassen-Vorstände werden die von Jordan und Koppelmann gemeinsam inszenierte Chose überhaupt nicht mögen. Feingeister eher auch nicht. Trotz des mit hauptstädtischen Schauspiel-Größen gespickten Ensembles: Gesine Cukrowski, Inka Friedrich, Noelle Haeselin, Heiko Deutschmann, Harald Schrott und Daniel Warland.

Aber die Mehrheit im spaßwütigen Publikum haut sich auf die Schenkel. Und erschrickt über die Bombe, die da plötzlich ins Jingle-Bells kracht und zum zufällig zuvor zitierten Brecht-Bonmot vom unausgewogenen Verhältnis von Bankgründung und Bankeinbruch passt.

Ein Einbruch! Hilfe, Gangster im Keller! Das Party-Chaos ist so groß wie der Schwenk ins selige Finale: Da nämlich haben die beiden größten Deppen im Team den einsamen Schlussauftritt als Bonnie und Clyde der Stadtrandsparkasse. Umschlungen in Liebe präsentieren die Ober-Gangster, von aller Weihnachtswelt unentdeckt, ihren Bomben-Coup: Tresor gesprengt, Geld geklaut. O du fröhliche…

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Wintergarten: Krokodil mit Reisewecker 

Hier das poetische Kontrastprogramm zur ballernden Sparkassenfete im Renaissance Theater: „Zimt und Zauber“ wie alle Jahre wieder im Wintergarten für die lieben Kleinen (nebst ihren Großen). Zimtsterne werden großzügig verteilt; deutlich größer freilich ist der Popcorn-Verkauf, das nebenbei.

Gar nicht nebenbei, sondern im Mittelpunkt der auch ohne Zauberei zauberhaften Show turnen die Nachwuchsartisten vom Berliner Kinder- und Jugendzirkus CABUWAZI aus Marzahn (Standort: Springling). Doch was heißt turnen: Sie fliegen durch die Lüfte, schrauben und spreizen sich in die Höhe an Seilen, radeln Treppe rauf, Treppe runter und im Kreis, teils locker im Sattel oder auf dem Lenker. Sie liefern altersgerechten Leistungssport an Klettergerüsten und erzeugen johlende Beifallsstürme.

Das erregteste Kreischen allerdings gellt bei den abenteuerlichen Geschichten um Peter Pan, der mit seinen Leuten, auch droben im Flugzeug, durchs Nimmerland zieht. Er trifft Meerjungfrauen, den Indianerhäuptling Federleicht, das Krokodil, das die Zeit frisst und obendrein einen immerzu klingelnden Wecker verschluckt hat. Da wird die gekaperte Tigerlilly befreit im Kampf, teils im Schlauchboot, gegen das Piratenschiff des bösen Käpt’n Hook und seiner Mannschaft. Die Kurzszenen (Script: Tamina Cukowski, Musik: Tim Schultheiss) aus „Peter Pan“ liefern sozusagen die wilden Zwischenspiele für die Auftritte der zirzensischen Nachwuchskader. Obendrein werden ganz locker pädagogisch wertvolle Lebenshinweise eingestreut. Ihre Themen, teils chorisch gesungen: Mut, Selbstbewusstsein, Zeit sinnvoll nutzen, Geld und Glücklichsein. In 90 Minuten ist der Spaß vorbei (Regie: Fabian Gröger). Und alle sind gut drauf.