Diesmal: „Falling in Love“ – Friedrichstadt-Palast / „Bunbury“ – Kammerspiele des Deutschen Theaters / „Gift“ – Deutsches Theater, Gratulation zur 100. Vorstellung
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Palast: Magische Poesie, gleißende Monumentalität
Unter einer scheinbar aus Kristall gebauten Riesenglitzerkuppel träumt einsam ein schüchtern wirkender Jüngling: Es ist YOU, ganz in Weiß mit weit offenem Kragen und wehendem Haar – wie Goethes Werther, möchte man meinen. Und YOU grüßt denn auch, gedankenversunken und sehr lyrisch. Mit einem Poem des Romantikers William Blake, eines Goethe-Zeitgenossen: „So I turn’d to the Garden of Love, / That so many sweet flowers bore…“ Aha, ein Mädchen. Die Angebetete im fantasierten Liebesgarten – sie trägt den Namen ME.
Doch YOU fühlt sich gefangen im monumental funkelnden Dom von Diamond City. Ihr Baustoff: ein tonnenschwerer Import aus Tirol –‑ die berühmte Glasschleiferei Swarovski. In der kühl gleißenden Fantasy-Stadt, so die von höherer Warte (der Dramaturgie) erdachte Mär, sind nur drei Farben erlaubt: Rot, Blau, Grün. Für eine soll YOU sich entscheiden, was ihm, einem Freund der Vielfarbigkeit, unmöglich ist. Miss ME freilich hat sich längst emanzipiert, ist frei von solch reiner Farbenlehre …
Doch da donnert bereits die dreizehn Millionen Euro teure Show „Falling in Love“ von Berndt Schmidt, Oliver Hoppmann und Jean Paul Gaultier aus allen kunstvoll eingesetzten Rohren, um den zaghaften Burschen für nur eine Farbe zu begeistern: fürs Rot, fürs Blau oder fürs Grün.
Ja, es werden in diesem immer wieder sensationellen und weltweit singulären Haus mit seiner 3000-Quadratmeter-Bühne verführerische Kräfte entfesselt, uns staunend zu machen. Menschen, Maschinen, Musiken, Choreografien, Kostüme, Architekturen, Film und Licht produzieren atemberaubende Bilder von wuchtig bis filigran in geradezu gigantomanischer Menge. Die Macht der szenischen Ideen ist suggestiv. Und eben immer wieder durchsetzt von magischen Momenten des Innehaltens, der Stille. Raffiniertestes Überwältigungstheater!
Die entwicklungsdramaturgisch hübsch gedachte Geschichte von der Einfalt (einer Farbe) zur Vielfalt, von Exklusion zu Inklusion und Diversität, vom Einengenden zum Befreienden, ja zur Freiheit – gipfelnd in der Apotheose erlösenden Liebesglücks zwischen YOU und ME – wir behalten sie im Hinterkopf, die märchenhaft-metaphernlastige Story. Und geben uns gelöst hin dem Abenteuer der Verzauberung.
Doch es gibt da – sagen wir – etwas besonders Bezauberndes, etwas, was unser Herz hüpfen lässt. Wir erfahren nämlich (durch Ansage), dass die Figur des YOU der Tänzer Collum Webdale spielt; er ist von Geburt an gehörlos. Durch technische Finessen und phänomenale Anstrengung seines Willens vermag er sich entsprechend den Musiken tänzerisch zu bewegen. Schließlich zitiert er Blake in Gebärdensprache, und wir lauschen einer Stimme aus dem Off: „I went to the Garden of Love, / And saw what I never had seen: / A Chapel was built in the midst, / Where I used to play on the green…“
Am glücklichen Ende, nach zwei Stunden Revuetheater mit elektrisierenden Tänzen, hochleistungssportlicher Artistik, mit süffigem Sound und rockigem Gesang zwischen auf- und niederstürzenden Wasserfontänen, fasst YOU seine ME zärtlich bei der Hand. Und beide schweben auf einem himmlischen Tiroler Diamanten (angeblich 180 Kilo schwer) geradeaus ins regenbogenfarbig selige Glück in der Höh‘. Sphärenklänge, Lichtkegel toben; es regnet Goldkonfetti. Hollywood und Las Vegas machen Party. Oder: Ganz große Oper!
Eine Weile zuvor jedoch auch das: Eine gefühlte Viertelstunde lang knisternde Stille beim höchst komplizierten, scheinbar ganz einfachen, leichten, faszinierend ästhetischen und philosophisch grundierten Auftritt des Artisten Andreis Jacobs Rigolo. Fügt er doch mit äußerster Vorsicht einen riesigen Haufen übermannsgroßer meterlanger Palmblatt-Rippen behutsam zusammen zu einem grandiosen Mega-Mobile, dessen Balance letztlich allein eine kleine Feder hält. Als Andreis Rigolo sie wegpustet, stürzt alles, das herrliche kostbare Gebilde, krachend zusammen. Das Publikum ist perplex – gerührt, begeistert. Was für ein Sinnbild in was für Zeiten!
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DT-Kammer: Schrecklicher Klamauk, schöner Zungenkuss
Ein hübscher Jüngling, elegant und elastisch, schlüpft vor den tiefroten Samtvorhang, um mit vornehm ausdruckstänzerischer Gebärde einem seidenweichen Popsong zu lauschen und in die Klangwolken aus dem Pianoforte zu tauchen: „Two Men in Love“ von Jamie Irrepressible. Das wahrlich betörende Solo des hinreißenden Andri Schenardi als Algernon Moncrieff (ein tolles neues Schmuckstück am DT!) ist die Ouvertüre zu Oscar Wildes sarkastisch intrigantem Lug-und-Trug-Spiel „Bunbury“ von 1895.
So weit so sentimental schön – und zugleich dramaturgisch schlecht. Wird doch von Anfang an mit wattegepolstertem Hämmerchen klargestellt: Hier dreht sich alles ums Nonbinäre. Die beiden befreundeten Protagonisten, Dandy Algernon und Dandy John Worthing (Frieder Langenberger), sind schwul. Um ihre Liebesspiele geheim zu halten, erfindet Algi einen kranken Freund Bunbury, der seine Hilfe braucht, und John erfindet einen Bruder Ernst, den er ständig zu besuchen hat. Die Gelegenheiten für den versteckten Sex.
Wieso verstecken, wieso heimlich? Das Schwulissimo liegt doch von Anfang an offen. Und wieso faseln die Herren immerzu vom Verknalltsein ins Weibliche; in eine gewisse Gwendolen (Lisa Birke Balzer) und Cecily (Maximilian Haß), die ohnehin – entgegen ihrer schrill behaupteten Sucht auf Kerle – bei jeder Gelegenheit lesbisch turteln?
Was für ein knallharter Holzhammer, mit dem Regisseurin Claudia Bossard den Klassiker zeitgeistig auf altbacken Queerness trimmt. Was der irrwitzigen Sache sofort jegliche Doppelbödigkeit nimmt, also den grundlegenden Wilde-Witz.
Den Titel „Bunbury. Ernst sein is everything“ muss man vollkommen ernst nehmen und spielen. Nur so kann die Komödie erblühen. Entsteht die eskalierende Spannung im Hickhack der Figuren, die Fallhöhe zwischen ihrem öffentlichen Gerede und heimlichen Tun, wirkt die präzise Situationskomik und nicht zuletzt der gesellschaftskritische Impetus des Autors. Wilde wollte der victorianischen Upper-Class ihre Masken vom züchtigen Antlitz reißen, ihre Doppelmoral bloßstellen – schließlich kam er just zwei Monate nach der Londoner Uraufführung wegen „homosexueller Unzucht“ in den Knast.
All das wird abgewürgt in dieser unentwegt und nicht selten peinlich auf Allotria gebürsteten Inszenierung. Und noch dazu der scharf geschliffene, abgründige Sprachwitz des Autors, den die Bossard verkleistert mit ihrer von englischen Sottisen angestrengt durchwalkten Neuübersetzung.
Oscar Wilde hielt „Bunbury“ für sein feinstes Theaterding. Unglaublich die Chuzpe, mit der Bossard daraus eine Klimbim-Veranstaltung macht. Sie hätte hier in der Hauptstadt ehrlicherweise und besser gleich eine der köstlichen Neuköllner LGBTIQ-Klamotten von Ades Zabel in der Berliner Kabarettanstalt BKA inszenieren sollen.
Unglaublich, dass die Neu-Intendantin diese flott und ach so lustig sein wollende, dabei arg langweilende Alt-Produktion als Übernahme aus Graz nach Berlin schleppte. Umso lächerlicher die Ansage auf dem Programmzettel, man wolle „Wildes Biografie und die identitätspolitischen Auseinandersetzungen unserer Gegenwart“ aufzeigen. – Dabei lieferte Claudia Bossard mit der virtuosen Inszenierung des Rainald-Goetz-Stücks „Baracke“ zu DT-Saisonbeginn ein Glanzstück.
Zum Schluss, nach zwei Stunden des Herumtollens und -alberns, nochmals ein identitätspolitisch längst ausgelutschtes Ausrufezeichen: ein minutenlanger Zungenkuss zwischen John und Algernon. Sehr innig. Und ziemlich schön; das immerhin.
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DT: Kleine Sensation mit zwei Großen: Manzel und Matthes zusammen
„Gift“ von Lot Vekemans ist das Drama, die Tragödie gescheiterter Eheleute. Erst verloren beide ihr einziges Kind bei einem Unfall, dann sich selbst und schließlich einander (Dagmar Manzel, Ulrich Matthes). Nun treffen sie sich nach Jahren wieder auf dem Friedhof am Grab des Kindes – und reden, zwangsläufig, mal wieder miteinander. Blicken zurück, klären auf, verletzten sich erneut, missverstehen, aber verstehen auch. Unendliche Trauerarbeit beiderseits. Aber auch die (schwierige) Schau nach vorn. Doch das Trauma und die vielseitigen Verletzungen der bitteren Entfremdung ätzen weiter; insbesondere bei ihr.
Schwere Sache, von Regisseur Christian Schwochow boulevardesk aufbereitet, nicht ganz frei von Komik. Am Ende umarmen sich die zwei wie Schiffbrüchige sich klammern an eine Boje. – Packendes Schauspielertheater mit zwei ganz Großen des Theaters. Sternstundenhaft.
Premiere war vor einem Jahrzehnt; die in der Branche seltene 100. Vorstellung ist am 2. Dezember. Gratulation!
Schlagwörter: Claudia Bossard, Dagmar Manzel, Deutsches Theater, Friedrichstadt-Palast, Oscar Wilde, Reinhard Wengierek, Ulrich Matthes