Die Kontroverse um die staatliche Kreditaufnahme, die Schuldenbremse und um Kürzungen im Bundeshaushalt, die nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dem Verbot, nicht in Anspruch genommene Kreditermächtigungen für Coronahilfen in Höhe von 60 Milliarden Euro in den Klima- und Transformationsfonds zu verschieben, in Gang gekommen ist, ist mehr als nur eine haushaltspolitische Debatte. Mit dem Scheitern des Versuchs, wichtige Zukunftsinvestitionen und andere Ausgaben über Sondervermögen und damit vorbei an den Haushaltsregeln zu finanzieren, klafft im Haushalt für 2023 und 2024 eine Lücke, die nun anders als ursprünglich vorgesehen geschlossen werden muss.
Grundsätzlich bieten sich dafür mehrere Möglichkeiten: Naheliegend wäre es, die Schuldenbremse ein weiteres Mal auszusetzen, wie es die SPD vorschlägt. Der Staat könnte wiederholt eine Notlage ausrufen und dann zusätzliche Kredite aufnehmen, um den klimagerechten Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu finanzieren. Aber das will die FDP nicht. Und große Teile der Opposition auch nicht. Als Ausweg bieten sich Steuererhöhungen oder die Einführung neuer Steuern und Abgaben für Vermögende und Besserverdienende an. Dies würde jedoch die Klientel der FDP belasten, weshalb sie dies vehement ablehnt. So erklärte der Bundesfinanzminister sofort nach Bekanntgabe des Urteils, dass es in Deutschland „kein Einnahmeproblem“, sondern lediglich ein „Ausgabenproblem“ gäbe. Er und seine Partei favorisieren als Lösungsansatz vor allem Ausgabenkürzungen im Sozialbereich. Zweifelsohne ließen sich hier ein paar Millionen Euro einsparen, keinesfalls aber 60 Milliarden!
Mit dem Streit darüber, wo gespart werden soll, ist neben der Debatte um die Fortsetzung der ökologischen Transformation nun auch noch ein Verteilungsstreit entbrannt, bei dem es darum geht, zu klären, wer die Kosten der Corona-Krise, der Energiewende und der Aufrüstung der Bundeswehr trägt, die Konzerne oder die Bevölkerung, die Besserverdienenden und Vermögenden oder die Niedrigverdiener, die Rentner und sozial Schwachen.
Die Bundesregierung steht nach dem Karlsruher Urteil ganz offensichtlich vor einem finanzpolitischen Desaster. Noch nie haben sich ein Finanzminister und ein Bundeskanzler dermaßen blamiert wie in der aktuellen Situation. Damit aber sind zugleich Grundfragen der deutschen Finanzpolitik aufgeworfen. Diese betreffen insbesondere die Anzahl und den Umfang der zweckgebundenen Sondervermögen. Staunend nimmt man zur Kenntnis, dass es in Deutschland derzeit 29 „Sondervermögen des Bundes“ mit einem Gesamtumfang von 869 Milliarden Euro gibt. Diese firmieren als „Extrahaushalte“ und sind nach dem Haushaltsrecht wirtschaftlich verselbständigte „Nebenhaushalte“, de facto aber „Schattenhaushalte“, die es der jeweiligen Regierung erlauben, das Recht zu umgehen und die wahre Haushaltslage zu verschleiern. Die Sondervermögen sollen der Erfüllung genau definierter und eng begrenzter Aufgaben in einer besonderen Situation dienen. Die meisten von ihnen sind mit einer eigenen Kreditermächtigung ausgestattet. Deren Umfang beträgt 590,2 Milliarden Euro, also mehr als der Bundeshaushalt, der 2023 476 Milliarden Euro umfassen soll. Aus diesen Daten geht hervor, dass noch ganz andere Posten und Größenordnungen „im Feuer“ stehen als die im Urteil genannten 60 Milliarden Euro. Eine Reform des Regelwerks erscheint daher dringend geboten.
In der offiziellen Berichterstattung über die Finanzlage der Bundesrepublik werden die Sondervermögen und die mit ihrer Inanspruchnahme verbundene Kreditbelastung zumeist ausgespart. Daraus resultiert ein die tatsächliche Lage beschönigendes, aber „schiefes“ Bild. So wies der Bundesrechnungshof bereits im August darauf hin, dass die Nettokreditaufnahme des Bundes für das Jahr 2023 mit 45,6 Milliarden Euro angegeben wiede, sofern man die Kredite der Sondervermögen in Höhe von 147,2 Milliarden Euro aber mitrechne, mehr als viermal so viel betrage, nämlich 192,8 Milliarden Euro. Das „Verschuldungspotenzial“ der Sondervermögen, so die Rechnungsprüfer, lag im Vorjahr mit „rund 522 Milliarden Euro bei etwa dem Fünffachen der im Finanzplanungszeitraum 2023 bis 2027 ausgewiesenen Kreditaufnahme“. – Was soll man von einem Finanzgebaren halten, bei dem die Neben- oder Schattenhaushalte die Hauptsache sind und der offizielle Haushalt zur Nebensache wird? Und was kann die seit 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse überhaupt noch bewirken, wenn sie durch derartige „Tricksereien“ faktisch ausgehebelt ist?
Andererseits aber muss man auch fragen: Wie sollen die Energiewende und die ökologische Transformation umgesetzt werden, wenn keine Mittel für Investitionen zur Verfügung stehen, weil durch die Schuldenbremse eine angemessene Kreditinanspruchnahme blockiert wird? Die Regierung hat einen Ausweg gesucht, der nun gestoppt wurde. Dabei ist dem Bundesrechnungshof und dem Bundesverfassungsgericht durchaus zu folgen, wenn sie feststellen, dass die exzessive Praxis der Einrichtung von Sondervermögen das parlamentarische Budgetrecht und die Wirksamkeit der verfassungsmäßigen Schuldenregel gefährdet hat. Ja, mehr noch, diese Praxis hat dem systematischen Verstoß dagegen ganz offensichtlich Vorschub geleistet. Es kann daher künftig nur darum gehen, sie einzugrenzen und wirksamer zu kontrollieren.
Verhängnisvoll wäre es jedoch, wenn der selbstverschuldete Missstand nun zum Anlass genommen würde, um den Klimaschutz zu suspendieren, die Investitionsprogramme zur ökologischen Modernisierung der Wirtschaft und der Infrastruktur zurückzufahren und die Sozialleistungen des Staates massiv zu kürzen. Ersteres würde in der Zukunft nicht nur Schäden, sondern auch höhere Kosten verursachen. Das Einfrieren der Kredite für den Wirtschaftsumbau würde zu dauerhafter wirtschaftlicher Stagnation führen und den Modernisierungsrückstand Deutschlands weiter vergrößern. Und ein rigider Sparkurs bei den Sozialausgaben würde die Rezession verstetigen und die soziale Spaltung vertiefen. Hinzu kommt, dass die seit 2022 restriktive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in den Staaten des Euroraums einer flankierenden Finanzpolitik bedarf, die expansiv agiert. Genau das aber wollen die FDP und Christian Lindner nicht zulassen, womit sie den Standort Deutschland ökonomisch und den sozialen Frieden politisch akut gefährden.
Diskutiert man diese Optionen hinsichtlich ihrer gesamtwirtschaftlichen Kosten und Wirkungen, so zeigt sich, dass eine weitere Aussetzung der Schuldenbremse und ihre Revision derzeit die gangbarste Lösung wären. Noch besser wäre freilich ihre Streichung aus dem Grundgesetz. Daran ist aber angesichts des politischen Kräfteverhältnisses gegenwärtig nicht zu denken.
Schlagwörter: Christian Lindner, Finanzpolitik, Schuldenbremse, Sonderhaushalte, Ulrich Busch