26. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2023

Palästina wieder im Krieg

von Peter Petras

Über die Kriegssituation im Nahen Osten war hier zuletzt im Blättchen 12/2021 zu berichten. Jetzt ist es noch schlimmer. Mit Stand vom 2. November 2023 wurden am 7. Oktober über 1400 israelische Juden – alles Zivilpersonen – brutal gemeuchelt und massakriert, und 242 Personen von der Hamas-Organisation, die den Terror zu ihrer Daseinsweise gemacht hat, als Geiseln genommen. Israelisches Militär hat derweil durch Bombardements und Militäreinsätze im Gaza-Streifen über 8700 Menschen getötet, überwiegend ebenfalls Zivilpersonen. Dabei sind bisher 18 israelische Soldaten gefallen.

Zum Hintergrund des aktuellen Konflikts hat der israelische Historiker Moshe Zuckermann darauf verwiesen, dass das Israel Netanjahus „Geburtshelfer der Hamas“ war. Sie verhinderte die Gründung eines palästinensischen Staates, weil Netanjahu eine Zweistaatenlösung unter Führung der PLO – der traditionellen palästinensischen Befreiungsorganisation, die in der Westbank die Autonomiebehörde stellt – als „die eigentliche politische Bedrohung Israels“ ansah. Moshe Zimmermann, ebenfalls Historiker, betonte, dass 2014 der Friedensprozess formal am Ende war und niemand in Israel etwas für die Fortsetzung dieses Prozesses getan hat. Die Netanjahu-Regierung habe die Hamas als „islamistische Terrororganisation nicht ernst genommen“ und deshalb „die Orte im Kernland Israel nicht beschützt“. Die Regierung habe sich „in erster Linie um die jüdischen Siedlungen im Westjordanland gekümmert und nicht um den Schutz der israelischen Staatsbürger im Kernland Israel, für den der Staat gegründet wurde.“

Der israelische, in den USA lehrende Historiker Omer Bartov betonte ebenfalls, dass Ministerpräsident Netanjahu „sich bewusst dafür entschieden“ habe, „die Hamas zu unterstützen und die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland zu schwächen, weil er glaubte, dass dies der beste Weg sei, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Er hat den Wind gesät, den die israelische Gesellschaft nun als den Sturm dieser Katastrophe ernten musste.“ Israel sei „zu der Überzeugung gelangt, dass es die palästinensische Frage ‚managen‘ könne, indem es gelegentlich durch massive Bombenangriffe das Gras im Gazastreifen ‚mäht‘ und das besetzte Westjordanland in isolierte Gemeinden unter einem System von Kontrollpunkten und Überwachung aufteilt.“ Militärisch lasse sich der Israel-Palästina-Konflikt nicht lösen. „Der verabscheuungswürdige Angriff der Hamas muss als Versuch gewertet werden, die Aufmerksamkeit auf die Notlage der Palästinenser zu lenken.“

António Guterres war Premierminister Portugals, Präsident der Sozialistischen Internationale und bis 2015 zehn Jahre Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, bis er 2017 UNO-Generalsekretär wurde. Hier hat er sich stets bemüht, in den sich ausweitenden Krisen der Weltpolitik die Rolle der Vereinten Nationen zur Friedenssicherung und zur Einhaltung des Völkerrechts zu stärken. In diesem Sinne hielt er im UN-Sicherheitsrat am 24. Oktober 2023 eine kurze Ansprache zur aktuellen Lage im Nahen Osten. Darin verurteilte er erneut „die schrecklichen und beispiellosen Terroranschläge der Hamas vom 7. Oktober“ und betonte die Prinzipien des Völkerrechts, „angefangen beim Grundprinzip der Achtung und des Schutzes der Zivilbevölkerung“. Zugleich mahnte er: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattfanden. Das palästinensische Volk war 56 Jahre lang einer erdrückenden Besatzung ausgesetzt. Es hat miterlebt, wie sein Land ständig durch Siedlungen verschlungen und von Gewalt heimgesucht wurde. Seine Wirtschaft kam zum Stillstand; seine Menschen wurden vertrieben und seine Häuser zerstört. Seine Hoffnungen auf eine politische Lösung ihrer Notlage sind geschwunden.“ Dann stellte er unmissverständlich klar: „Aber die Beschwerden des palästinensischen Volkes können die entsetzlichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen. Und diese entsetzlichen Angriffe können die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes nicht rechtfertigen.“ An die Adresse Israels gerichtet unterstrich er: „Der Schutz der Zivilbevölkerung bedeutet nicht, mehr als eine Millionen Menschen zur Evakuierung in den Süden zu befehlen, wo es keine Unterkunft, keine Nahrung, kein Wasser, keine Medikamente und keinen Treibstoff gibt, und dann den Süden selbst weiter zu bombardieren. Ich bin zutiefst besorgt über die eindeutigen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die wir in Gaza beobachten.“

Israel reagierte verärgert. Der Botschafter bei der UNO, Gilad Erdan, drehte Guterres das Wort im Mund um und behauptete, die Aussage, dass „der mörderische Terrorangriff der Nazi-Hamas nicht im luftleeren Raum stattfand“, sei eine Rechtfertigung von Terror und Mord, Guterres habe eine „verzerrte und unmoralische Sicht“ auf die Masaker vom 7. Oktober. Israels Außenminister Eli Cohen sagte ein Treffen mit dem UNO-Generalsekretär ab.

Ab 2005 war Christoph Heusgen außen- und sicherheitspolitischer Berater von Kanzlerin Angela Merkel; 2017 wurde er Ständiger Vertreter Deutschlands bei den Vereinten Nationen, auch weil Deutschland 2019/2020 nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates wurde. Seit 2022 ist er Chef der Münchner „Sicherheitskonferenz“ – weder dort noch hier ist er bisher als friedenspolitische Taube aufgefallen. Gleichwohl versuchte er jetzt, die Position von Guterres zu verteidigen. Im ZDF sagte er am 24. Oktober, man müsse „verhindern, dass es einen Flächenbrand gibt, also keinen Einmarsch der israelischen Truppen im Gazastreifen“, und er forderte die Zwei-Staaten-Lösung. Die Massaker der Hamas am 7. Oktober nannte er eine „Hamas-Aktion“. Israels Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, bezeichnete Heusgens Äußerungen als „ungeheuerlich“, der habe den Terrorangriff der Hamas verharmlost. Worauf sich dieser mit diplomatischen Worten entschuldigte.

Gehen wir davon aus, dass Heusgen als früherer Sicherheitsberater seine Worte ursprünglich richtig gewählt hat, so sind die Angriffe der Hamas in einen militärischen Kontext zu stellen. Ein wichtiger Hinweis findet sich bei Herfried Münkler in seinem Buch über „Die neuen Kriege“ (2002). Dort schrieb er: „Der Pilot eines Kampfbombers oder die Besatzung eines Kriegsschiffes, von dem aus Tomahawk-Raketen abgefeuert werden, befinden sich außerhalb der Reichweite gegnerischer Waffen. Der Krieg hat hier alle Charakteristika der klassischen Duellsituation verloren und sich, zynisch gesagt, gewissen Formen von Schädlingsbekämpfung angenähert.“

Israel hat seit dem Sechstage-Krieg 1967 eine klare militärische Überlegenheit seiner Streitkräfte und Waffen gegenüber allen anderen Akteuren in der Region; die wurde durch das militärische Patt im Jom-Kippur-Krieg 1973 nicht beseitigt und mit dem Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten (1979) faktisch sanktioniert. In allen militärischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten seither war die militärisch-technische Überlegenheit der „Schädlingsbekämpfer“ offensichtlich und uneinholbar. Eine militärische Gegen-Aktion konnte am Ende nur im terroristischen Meuchelmord bestehen, durch fanatisierte, gut ausgebildete Kämpfer, ausgeführt mit Handfeuerwaffen und Macheten, und in Geiselnahmen. Getragen von der Bereitschaft junger Männer und Frauen, selbst zu sterben. Selbstmordattentäter gehören seit Jahrzehnten zu den militärischen Auseinandersetzungen insbesondere auch im Nahen Osten. Die Hamas hat die jetzt im Einsatz befindlichen Kräfte offenbar seit mindestens zehn Jahren vorbereitet. Während die israelischen Geheimdienste das relative Stillhalten der Hamas im Gaza-Streifen als Schwäche deuteten.