Gewiss, er ist still. Und trüb. Aber nicht trübsinnig. Gewiss, er birgt einige Tropfen Melancholie in sich, und das Tageslicht wird kürzer. Man nennt ihn den grauen Monat. Aber was für ein Grau! Es ist zwar keine echte Farbe, aber nun erst wird deutlich, welche feinen Abstufungen diese Nichtfarbe besitzt. Zart hell getönt wie der Taft von Damenroben auf Gemälden Alter Meister. Mittlerer Ton (Artikel-Bezeichnung einer bekannten Farbenfirma: „Nebel im November“), einem edlen Biedermeier-Gehrock in nachgedunkeltem Silbergrau gleich. Und tiefdunkel wie ein schwerer Samtumhang mit Pelzbesatz.
Der November trägt einen Schleier. Den Nebel. Entweder zeigt er sich wie ein hauchdünnes Gewebe, das alle Konturen freigibt. Oder verhüllend, als wolle er ein Geheimnis verbergen; und undurchschaubar, den Weg versperrend, in die Irre führend, weil er missmutig ist.
Manchmal bricht der Monat aus, tobt mit wilden Stürmen, reißt die Äste von den Bäumen, weil ihn irgendetwas erzürnt. Doch kehrt er bald zur gewohnten Stille zurück. – Seine Schmeichelei gilt den bunten Herbstfarben der Natur. Das gedämpfte Licht versetzt sie in ein wundersames Leuchten: Goldgelb, Zitronengelb, Kanariengelb; Gelborange, Orangerot, Weinrot, Purpurrot; hinüber zum hellen Braun, Kupferbraun, Kastanienbraun. Wird die Pracht über Nacht ausgelöscht, dann breitet sich Trauer aus.
Sie ist es wohl, die zur Stille zurückführt und die Gedanken nach innen lenkt. Weg von der Unruhe des Alltags und hin zur Geruhsamkeit auf Zeit. Der Möglichkeiten sind viele. Ein Buch zur Hand nehmen. Im Stadtpark einen Spaziergang planen. Durch Wald und Flur wandern, und dabei die purpurroten Hagebutten entdecken und das Weiß der Schneebeeren im Gebüsch. Wenn man an Schlehdornhecken vorbeikommt, und der erste Frost ist bereits durchgezogen, so darf man die blauen Beeren probieren, sie schmecken angenehm süß. – Vielleicht ist der Schrei der Kraniche zu hören, und das Schauspiel ihres Flugbildes am Himmel zu verfolgen. Vielleicht fällt schon der erste Schnee, der nicht liegen bleibt. Es ist ein wohlmeinender Hinweis des Monats auf die nahenden Wintertage.
Neugierig bin ich auf das Dichtervolk, wie wird es mit dem November umgehen? – Max Dauthendey äußert sich gleich zum Monatsbeginn: „Da draußen ist frühe Nebelnacht, / Die hat den Tag um Stunden bestohlen, / Hat aus den Fenstern Laternen gemacht. / Ich möchte mir den Mond herholen, / Daß ich einen hätt‘, der ewig lacht …“ („Erster November“)
Erich Kästner empfiehlt einen Gang durch die Stadt bei Regen, gibt aber den Hinweis, auf den Straßenverkehr zu achten: „Ziehen Sie die ältesten Schuhe an, / die in Ihrem Schrank vergessen stehn! / Denn Sie sollten wirklich dann und wann / auch bei Regen durch die Straßen gehn. […] Abends tropfen hunderttausend Lichter / zischend auf den glitschigen Asphalt. / Und die Pfützen haben fast Gesichter. / Und die Regenschirme sind ein Wald. […] Geben sie ja auf die Autos acht. / Gehn Sie, bitte, falls Sie friert, nach Haus! / Sonst wird noch ein Schnupfen heimgebracht. / Und, ziehn Sie sofort die Schuhe aus!“ („Nasser November“)
Adelbert von Chamisso erlebte den ersten Schneefall: „Der leise schleichend euch umsponnen / Mit argem Trug, eh ihr‘s gedacht, / Seht, seht den Unhold! über Nacht / Hat er sich andern Rat ersonnen. / Seht, seht den Schneenmantel wallen! / Das ist des Winters Herrscherkleid; / Die Larve läßt der Grimme fallen – / Nun wißt ihr doch, woran ihr seid …“ („Der erste Schnee“)
Von den meisten Dichterlingen hört man nur Klagelieder singen, von Tränen und dem schweren Los, als sei die Welt ein Trauerkloß. Da lob ich mir den Morgenstern, der hielt sich aller Klagen fern. Er hat es auf den Punkt gebracht, was der November kann und macht: „Nebel hängt wie Rauch ums Haus, / drängt die Welt nach innen; / ohne Not geht niemand aus; / alles fällt in Sinnen. / Leise wird die Hand, der Mund, / stiller die Gebärde. / Heimlich, wie auf Meeresgrund / träumen Mensch und Erde.“ (Christian Morgenstern: „Novembertag“) – Meine Wertschätzung gehört dem Monat November. Möge er unbescholten bleiben.
Richtigstellung: Nach dem römischen Kalendarium war der November der neunte Monat im Jahreslauf (lateinisch: novembris, novem – neun). Dann wurde der Jahresbeginn um zwei Monate nach vorn verschoben, und der November erhielt den elften Platz in der Zeitzählung, er behielt aber den herkömmlichen Namen. Da es keine Beanstandungen gab, blieb es dabei.
Schlagwörter: Adelbert von Chamisso, Christian Morgenstern, Erich Kästner, Max Dauthendey, November, Renate Hoffmann