26. Jahrgang | Nummer 25 | 4. Dezember 2023

Menschen-Schicksale als Bühnenfutter – eine Theaterwoche in Wien

von Joachim Lange

Kommt der Theaterfreund für eine Woche nach Wien, dann erwartet er viel und ist gefasst, noch mehr zu finden. Trotzt Corona. Und auch trotz aller hausgemachten Wiener Nörgeleien am Burgtheaterdirektor und der Sorge vor den heute üblichen Zwischenrufen aus der Deckung des Internets, falls es auf der Bühne zu an-, respektive auszüglich wird.

Die Probe aufs Exempel Ende November bot mit Tobias Kratzers Inszenierung von Jaromir Weinbergers einstigem Repertoirehit „Schwanda der Dudelsackpfeifer“ von 1927, ein Ausgrabungs-Schmankerl im Musiktheater an der Wien, So nennt sich Wiens ambitioniertestes Opernhaus, das Theater an der Wien, seit es im Museumsquartier seine provisorische Spielstätte bezogen hat. Bei Kratzer liegt Böhmen zwar nicht am Meer, aber an der Donau. Er macht aus dem Märchen einen Trip zur sexuellen Selbsterkundung eines jungen Paares im Wien von heute. Bei ihm wird der Räuber im Stück zu einem Fremden, der beide verführt beziehungsweise irritiert. Kratzer denkt die historische Vorlage mit der zeitgleich entstandenen „Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler und deren Kubrick- Filmadaption „Eyes Wide Shot“ zusammen und lässt sich davon inspirieren. Samt Referenz an den Zeitgeist mit dem Label „ab 16“.

Im Theater in der Josefstadt gab es die Uraufführung von Peter Turrinis „Bis nächsten Freitag“. Zwei ehemalige Jugendfreunde, nunmehr in fortgeschrittenem Alter, treffen sich im tristen Gasthaus „Zur tschechischen Botschaft“ und konfrontieren sich mit ihrer Einsamkeit und dem Auseinanderdriften ihrer Haltungen. Regisseur und Ausstatter Alexander Kubelka bereitet die Bühne für Herbert Föttinger und Erwin Steinhauer, die als nach rechts abgedrehter Romanistikdozent uns als unverbesserlicher Buchhändler-Gutmensch zur Hochform auflaufen.

Dieses Theater mit dem hinreißend altmodischen Charme bot im Repertoire darüber hinaus den „Großen Diktator“ in den Kammerspielen und Ibsens „Die Stützen der Gesellschaft“.

In der von Dominic Oley inszenierten Theater-Adaption des Chaplin-Klassikers glänzt Alexander Pschill in der Doppelrolle als Barbier und Diktator Hynkel an der Spitze eines Ensembles, das die Balance zwischen Parodie, Slapstick und tieferer Bedeutung glänzend hält.

Für Ibsens Stück vermerkt das Programm David Bösch nicht nur als Regisseur, sondern auch als Autor einer Neufassung. Die verlegt das in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts entstandene Drama mit drastischen Eingriffen beherzt in die Gegenwart. Das ergibt einen in sich schlüssigen, spannenden Theaterabend. Als Raum dafür hat Ausstatter Patrick Bannwart eine Unternehmenszentrale auf die Drehbühne gesetzt. Videos sorgen für Wetter- und Werftambiente. Dass am Ende nicht nur die Gipsbüste des Unternehmensgründers zu Bruch geht, ist klar, als das erste Mal von den dunklen Familiengeheimnissen die Rede ist. Mit der Konsequenz einer griechischen Tragödie wird selbst der Sohn von Firmenboss Karsten Bernick (Raphael von Bargen) zum Opfer von dessen Gier und Skrupellosigkeit. Eine Tragödie mit Ansage – plausibel in die Gegenwart verlegt und glänzend von einem fabelhaften Ensemble gespielt.

Im Burgtheater schließlich stellte sich der scheidende Direktor Martin Kušej mit Molieres „Menschenfeind“ seinen Wiener Freundfeinden. Außerdem gab es das von ihm inszenierte Jugoslawienstück „Drei Winter“ und, weil Shakespeare an sich immer eine gute Wahl ist, „Der Sturm“. Ausgerechnet dieses Nummer-Sicher-Stück allerdings erwies sich als einziger Flop bei dieser Wiener Theaterwoche. Jedenfalls so gut wie. Denn Thorleifur Örn Arnarsson setzte auf mehr Bilder-Assoziations-Musik-Wind, als dem Stück gut tut, um noch erkennbar zu bleiben. Den Abend konnte auch die Happel-Mertens-Koch-Hörbiger-Truppe nicht wirklich vor dem Seufzer „Mehr Inhalt, weniger Kunst“ von Hamlets Mutter Gertrud bewahren.

Die beiden anderen Kušej-Inszenierungen freilich sind gute Argumenten, um den Regisseur vor seinen Gegnern in Schutz zu nehmen. Die funktionieren nämlich alle beide ganz hervorragend, dienen den Vorlagen und wuchern mit den Mimen-Pfunden dieses Theaters, das immer noch als Referenz fürs deutsche Sprechtheater gilt.

Das von Karen Witthuhn aus dem Englischen in geschmeidiges Deutsch übertragene Stück „Drei Winter“ der kroatischen Autorin Tena Štivicic verschränkt mit 1945, 1990 und 2011 drei für Kroatien historisch bedeutende Jahre. Dazu wird die Geschichte einer Familie über mehrere Generationen hinweg erzählt. Ein schlichtes Haus, um dessen Besitz es immer wieder geht, ist der Raum, den Annette Murschetz gebaut hat. Es geht um die Haltung der einzelnen Figuren zu den politischen Wendungen und das Schlittern in den für unmöglich gehaltenen Bürgerkrieg beim Zerfall Jugoslawiens. Es braucht etwas Zeit, um sich in die familiären Beziehungen einzudenken, doch dann folgt man den Lebensläufen, den Menschenschicksalen mit wachsender Anteilnahme. Wenn der Rückzugsort der Familie von originalen Kriegsbildern überblendet wird, ist das stets plausibel und jenseits von platter Agitation.

Mit seiner „Menschenfeind“ Premiere schließlich ist Kušej ganz bei sich. Und in Hochform. Selbst wenn man kein expliziter Molierefan ist, kann man sich der verblüffenden Gültigkeit und Präzision, mit der hier eine oberflächliche Gesellschaft nachgezeichnet wird, nicht entziehen. In der dunklen Opulenz des verspiegelten, abstrakten Bühnenraums von Martin Zehetgruber bewegen sich alle virtuos auf wortwörtlich brüchigem Boden. Mit metaphorischen Güllepfützen. Den unangepassten Wahrheitsfanatiker Alceste (Itay Tiran) verschluckt dieser Boden am Ende sogar. Es ist virtuos, wie Kušej die von Hans Magnus Enzensberger stammende Übersetzung mit austriakischen Politik- und Society-Schmankerln aufpeppt. Und wie sie allesamt in einen geradzu mephistophelischen Sound finden. Aus dem Ensemble ragen Mavie Hörbiger als selbstbewusste Célimène, Christoph Luser als Freund Philinte und Markus Meyer als beleidigter Möchtegerndichter Oronte heraus. Kann gut sein, dass Kušej den Wienern den Spiegel vorhalten wollte. Aber was könnten die da anders sehen, als sich selbst?