26. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2023

Berliner Zerreißprobe

von Wolfgang Brauer

Der Wiener Aktionist Günter Brus war 1970 an den Grenzen der von ihm als Gegenentwurf zur „klassischen“ Tafelmalerei gedachten Auseinandersetzung mit der eigenen Körperlichkeit angelangt. Im seinerzeit total verklemmten Österreich gelang ihm zwar die Provokation, aber irgendwie war auch die Luft raus. Im Juni jenes Jahres wagte Günter Brus einen letzten Schritt. In München versuchte er auf einer Performance sich selbst zu zerreißen. Brus überlebte die Aktion, er dachte sie auch eher symbolisch. Da der Künstler aber tatsächlich am Ende der Performance – er nannte sie „Zerreißprobe“ – die Grenzen der eigenen physischen Existenz erreichte, wandte er sich fortan hauptsächlich der Zeichnung und der Schriftstellerei zu.

Am Beginn der Brusschen Kunst stand die Provokation des Outsiders – auf ihrem Höhepunkt war der Meister „in“ und Objekt gut zahlender Sammlergier. Nichts macht das Scheitern der Aktionisten deutlicher als ihre prominente Präsentation in den teuren Tempeln der Hochkultur. Auch die Dokumentation der „Zerreißprobe“ wurde mit Hilfe der „Freunde der Nationalgalerie“ angekauft. Sie gibt der aktuellen Ausstellung der Berliner Neuen Nationalgalerie, die ausgewählte Arbeiten ihrer Sammlung zwischen 1945 und 2000 zeigt, den Titel.

Die „Zerreißprobe“ selbst ist in einem eher abseits gelegenen Winkel der Schau zu sehen. Man muss vorher durch die Abteilung der Feministinnen der 1970er und 1980er Jahre. Die hatten Brussens Grundgedanken einer Auseinandersetzung mit der kunst- und menschen- (vor allem frauen-)feindlich erfahrenen Umwelt durch den Einsatz der eigenen Körperlichkeit aufgenommen. Maria Abramovic’s Performance „Befreiung des Körpers“ (1975) oder Cornelia Schleimes „Bondage-Selbstinszenierung in Hüpstedt“ (1982) lehnen sich da durchaus an. Aber – und das ist spannend zu sehen, wird durch die Hängung der Schau leider etwas verdeckt – die Frauen bleiben bei der letztlich zur Effekthascherei heruntergekommenen Performance-Kunst nicht stehen. Da sind die Fotoarbeiten Cindy Shermans, aber auch die Video-Installation „Ever is over All“ (1997) der Schweizerin Pipilotti Rist, in der eine junge Frau lustvoll mit einer Keule in Form einer Fackel-Lilie Autoscheiben zertrümmert. Dazwischen die großartige „Medea“ (1985) der Dresdnerin Angela Hampel neben dem „Griff ins Leere (Durchlauferhitzer)“ des Kölners Jürgen Klauke aus dem Jahr 1983.

Diese Arbeiten finden sich in einer Abteilung mit dem Titel „Flüchtige Identitäten“, die Werke aus den 80er und 90er Jahren präsentiert. Ich halte diese Rubrizierung für danebengegangen. Spiel mit den Schichten der eigenen Persönlichkeit ja – aber diese Künstlerinnen und Künstler sind sich ihrer Identität sehr wohl bewusst. Was allerdings nach wie vor offen ist, offen bleiben muss, ist das Ergebnis von Sinn- und Standortsuche der Kunst selbst in unserer Zeit. Einer Zeit, in der scheinbar alle Maßstäbe der Humanität abhandengekommen sind und selbst die Zukunft des Menschen absolut offen scheint. Klaus Biesenbach, Direktor der Neuen Nationalgalerie, verwies zu Beginn der Pressevorbesichtigung mit großer Berechtigung auf die antizipatorische Kraft der Kunst …

Die Ausstellung macht diese Kraft mit einer Auswahl von 163 Arbeiten aus dem umfangreichen Bestand des Museums auf eindringliche Weise deutlich. Die Kuratoren Joachim Jäger, Maike Steinkamp und Marta Smolińska haben sich dafür entschieden, die großen Dekadenschnitte in 14 Kapiteln thematisch zu unterlegen.

Ihren Einstieg wählen sie mit dem Thema „Abstraktion/Figuration“, dem großen ästhetischen Konfliktfeld der Nachkriegszeit. Biesenbach räumte fast schamvoll ein, dass die Rolle des Figurativen in Deutschland respektive Europa offensichtlich eine besondere, durchaus beachtliche im Vergleich zu der in den USA gleichsam als „Lebenshilfe“ gesehenen Abstraktion sei. Das ist ein Understatement. Im Eingangssaal wird eine Entgegensetzung von herausragenden abstrakten Arbeiten und Figurativem vorgenommen. Pierre Soulages’ „Schwarz, Braun und Grau“ (1957), Karl Otto Götz’ „Bild vom 5.2.1953“ (1953) oder gar Louis Morris’ überdimensionales „Beta Zeta“ (1960/61) stehen beispielsweise gegen Pablo Picassos „Liegende Frau mit Blumenstrauß“ (1958), Harald Metzkes’ enigmatischem „Abtransport der sechsarmigen Göttin“ (1956) oder Maria Lassnigs „Patriotische Familie“ (1963). Das geht nicht unbedingt zulasten der Figurativen aus. Leicht verschämt hinter einer Säule lüftet ein Vertiefungstext „Abstraktion als Weltsprache?“ ein wenig den mythischen Schleier vom scheinbar unaufhaltsamen Durchmarsch des Abstrakten in Nachkriegs-(West-)Deutschland. Der war politisch gewollt und befördert. Nicht zuletzt steht dafür das Wirken einer inzwischen so umstrittenen Persönlichkeit wie die des langjährigen Leiters der Nationalgalerie West-Berlin und documenta-Mitbegründers Werner Haftmann.

Haftmann mutierte vom überzeugten Nationalsozialisten zum heftigen Verteidiger des Abstrakten. Darüber, was an diesem Positionswechsel pures Verdrängungsmanöver von eigenen Untaten war und was nicht, lässt sich philosophieren. Übrigens hat vor zwei Jahren das Deutsche Historische Museum darauf aufmerksam gemacht, dass der Fall Haftmann mitnichten ein Einzelfall war. Und die Bösartigkeit, mit der die Protagonisten des Sozialistischen Realismus die Abstrakten bekämpften, beherrschte auch auf der anderen Seite des „Eisernen Vorhangs“ das Tun der Apologeten der Abstrakten. Man schenkte sich gegenseitig nichts. Auf der Strecke blieben Künstlerinnen und Künstler, die nicht bereit waren, in das jeweilige Horn zu tuten.

Ärgerlich hingegen ist die von den Kuratorinnen vorgenommene Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Sozialistischen Realismus“, den weder sie noch die seinerzeitigen Erfinder auch nur einigermaßen hinreichend definieren konnten oder können. Wenn als Beleg dafür ausgerechnet Horst Strempels ziemlich mittelmäßiges Bild „Plandiskussion“ (1949) und Fritz Cremers Gipsbüste „Bildnis Franz Franik II“ (1954) herhalten müssen, vergrößert das nur das Ärgernis. Von Cremer, diesem Jahrhundert-Künstler, ist weiter nichts zu sehen. Immerhin stehen in Korrespondenz zu bedeutenden Arbeiten Henry Moores („Frau auf Bank“, 1957) und Alberto Giacomettis („Große stehende Frau III“, 1960) Werke wie Wieland Försters „Verzweifelter. In Erinnerung an den 13. Februar 1945 in Dresden (Der Tod von Dresden)“ von 1967 oder „Upright Figure No 5“ (1970) von Renee Graetz.

Für die sozialistisch-realistische Plastik steht der biedere Walter Arnold im Raum „Schöneres Leben“. Seine lebensgroße Bronze einer sich das Kopftuch richtenden Bäuerin „Befreite Arbeit – schöneres Leben“ (1961) muss sich dem äußerst suggestionsstarken fotorealistischen Gemälde „Barbara und Gaby 3/74“ (1974) des Schweizers Franz Gertsch stellen. Arnold geht in dieser Konfrontation natürlich sang- und klanglos unter. Vom Sujet her hätte Gertsch übrigens fast zeitgleich seine Modelle in einem Ost-Berliner WBS-70-Badezimmer finden können. Die Deo-Marke wäre sicher eine andere gewesen. Hier geriert die Grundidee der Ausstellungsmacherinnen zur puren Propaganda, da relativieren auch Wolfgang Mattheuers „Die Ausgezeichnete“ (1973/1974), Uwe Pfeifers „Feierabend“ (1977) und Clemens Gröszers „Hallo Fräulein, bitte melden“ (1984) nur wenig. Förmlich befreiend wirkt in diesem merkwürdig bestückten Saal die überdimensionale Planierraupe von Konrad Klapheck („Glanz und Elend der Reformen“, 1971-1975), die den ganzen Ideologie-Schutt wegzuschieben scheint.

Dass das mit den Zuordnungen nicht so einfach ist, zeigt der Saal „Pop und Propaganda“. Raumbeherrschend die Konfrontation von Willi Sittes gigantischem Viertafelbild „Leuna 1969“ (1967-1969) mit Andy Warhols großformatigem Siebdruck „Double Elvis“ (1963), der dem armen Sitte mit gezogenem Revolver entgegentritt. Zwischen beiden hängt tatsächlich ein reines Propagandabild, das von Sujet und Stil her seinerzeit sowohl in der Sowjetunion als auch in den Vereinigten Staaten – natürlich mit anderen Stickern an den Raumanzügen – ungebrochene Zustimmung erfahren hätte: Juri Koroljows „Kosmonauten“ (1982). Beide konfrontativ gehängten Großformate als bloße Polit-PR abzutun, ist zu einfach. „Glanz und Elend der Kunstinterpretation“, um Klapheck zu persiflieren, werden an solchen Werken deutlich.

„Zerreißprobe“ ermöglicht dennoch die Begegnung mit wesentlichen Tendenzen der Kunstgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Schau stellt Sehgewohnheiten in Frage, sie beantwortet Fragen, wirft aber mehr auf, als sie Antworten zu geben in der Lage ist. Was will man mehr …

Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft. Sammlung der Nationalgalerie 1945-2000, Staatliche Museen zu Berlin – Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin; bis 28. September 2025.