Ob sich in China ein „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ oder aber eine totalitäre Diktatur von bisher nicht gesehener Mächtigkeit herausbildet ist eine Frage von praktischer Bedeutung für uns alle. Natürlich hat das Bild von einem Land, in dem 1,4 Milliarden Menschen leben, von vornherein viele Facetten. Wir im Osten Deutschlands haben viele Erinnerungen an eine komplizierte Beziehungsgeschichte, große Erwartungen an China in den 1950ern, für die das in der Überschrift zitierte Lied steht, später Konflikte zwischen China und der Sowjetunion, die 1969 sogar in eine bewaffnete Auseinandersetzung am Grenzfluss Ussuri mündeten. Heutzutage ist China für einige Nostalgiker die stärkste Bastion des Kommunismus auf der Welt. Sozialer Fortschritt, fragen sich andere, wo soll der sein, angesichts der kapitalistischen Entwicklung Chinas und einer Gesellschaft großer sozialer Ungleichheit?
Michael Brie hat ein Buch dazu geschrieben, warnt uns allerdings gleich zu Anfang, dass es kein Buch „über China selbst“ ist, sondern eines, „das aus dem Bemühen entstand, von einer sozialistischen Position aus über China nachzudenken“. Zu dem Buch kann hier nur ein kurzer Überblick gegeben werden: Im ersten Kapitel wird die Begrenztheit der üblichen Sichtweise westlicher Medien vorgeführt, die häufig auch die reiche Geschichte jenes großen ostasiatischen Landes ausblendet. Und die chinesische Gegenwart wird, so Brie, sowohl durch den liberalen als auch durch den linken Mainstream oberflächlich eingeschätzt. „Beide sind sich einig, dass es sich beim Wirtschaftssystem Chinas um eine kapitalistische Marktwirtschaft handelt, nur wird dieser Kapitalismus von den einen begrüßt, von den anderen dagegen strikt abgelehnt.“ Eine Quelle der Fehlannahmen dieser beiden Einschätzungen Chinas liege darin, dass nicht gesehen wird, wie die gleichen Aufgaben mit ähnlichem Erfolg durch unterschiedliche Institutionen wahrgenommen werden können. Es gehe damit um die grundsätzliche Frage, ob es Alternativen zur westlichen Moderne geben könne. Darauf wird zurückzukommen sein.
Kapitel 2 handelt von „Deng Xiaopings Schlaflosigkeit“, vom chinesischen Traum und seinen politischen Bedingungen, dem Wiederaufstieg Chinas, der massenhaften Überwindung von Armut und Unterentwicklung – bei Beibehaltung der Führung durch die Kommunistische Partei. „Die radikale Reformwende [von 1978 – D.S.) war nur möglich gewesen, weil es die neue Führung der KPCh vermochte, radikal mit der maoistischen Kulturrevolution zu brechen und zugleich die Legitimität der Partei wieder herzustellen.“
In Kapitel 3 wird zuerst der spezifische chinesische Sozialismus erläutert, er sei „Führung durch die KPCh plus Wiederaufstieg Chinas mit allen dazu erforderlichen Mitteln“. In diesem Kapitel wird belegt, dass Chinas Wirtschaft eine vom Staat gesteuerte Mischwirtschaft ist, in der sowohl Privateigentum als auch Markt eine andere Rolle als in den westlichen Kapitalismen spielen. Diese andere Rolle wird in hohem Maße durch die Fähigkeit der Kommunistischen Partei bestimmt, die langfristigen Grundprozesse wirtschaftlicher Entwicklung zu führen, eine Fähigkeit, die immer wieder hergestellt werden muss.
Die besondere Rolle der politischen Führung wird in Kapitel 4 unter der Überschrift „Die KPCh als kommunistischer Kaiser“ dargestellt, als „Organisationskaiser“, der die allgemeinen Interessen der Gesellschaft vertritt und offen für sozialökonomische Veränderungen ist (Zheng Yongnian). „Die KPCh nimmt unter den Bedingungen von Reform und Öffnung mehr noch als früher eine über den Klassen stehende Stellung ein.“
Das folgende, fünfte Kapitel widmet sich der weiteren Erörterung dieser gesellschaftlichen Rolle der KP, diskutiert die Frage, unter welchen Bedingungen diese Institution in gewünschter Weise funktionieren kann. Dafür muss sie ihre Führung als Hegemonie entwickeln, „… ein umfassendes Gestaltungsprojekt verkörpern, in dem die eigenen Interessen verallgemeinert, die eigenen Interessen in Übereinstimmung mit den Interessen großer Teile der Gesellschaft und der Gesamtgesellschaft dargestellt und wirksam entsprechende Politiken durchgesetzt werden“. Weiter wird in diesem Abschnitt auf das Zusammenspiel der KP mit einer lebendigen Zivilgesellschaft verwiesen. „Demokratische Elemente werden eingeführt, Transparenz gestärkt, Mitsprache ermöglicht, Selbstorganisation gewährt, das Recht ausgebaut…“ Allerdings alles nur unter der Voraussetzung, dass die Führung durch die KP dabei gesichert bleibt.
Die wichtigsten theoretischen Thesen werden in den Kapiteln 6 und 7 entwickelt. In seinem 2022 erschienenen Sozialismusbuch („Sozialismus neu entdecken“, ebenfalls bei VSA erschienen) hat Brie seine Auffassung von den zwei Formeln des Sozialismus, „der kommunistischen und der libertären allgemeinen Formel“, dargestellt. Hier arbeitet er damit. „Erstere sieht die Entwicklung des gemeinschaftlichen Gesellschaftskörpers als Ziel und die Entwicklung der Individuen als Mittel, Letztere umgekehrt die Entwicklung der Individuen als höchsten Zweck und den Reichtum der Gemeingüter und der Entwicklung des Gesellschaftskörpers als Instrument dafür.“ Bisher hatte in China die gesamtgesellschaftliche Entwicklung Vorrang und Brie verweist zu Recht auf die bemerkenswerten Ergebnisse dieser Entwicklung. Gleichzeitig hat sich die Lebensqualität aller Chinesen deutlich erhöht. Und damit entwickelte sich die libertäre Seite des Sozialismus.
Damit sind wir bei der Frage nach der Demokratie angekommen. Das siebente Kapitel fragt in der Überschrift: „Ist nur die liberale Demokratie demokratisch?“ Brie betont, dass die demokratischen Bedürfnisse der Bürger offenbar in institutionellen Formen verwirklicht werden, die „im Westen nicht als demokratisch angesehen werden“. Grundlage des Regierens sei ein Konsens des Volkes über die zu erfüllenden Aufgaben des Staates. Brie versucht zu zeigen, dass in die reale Entwicklung des chinesischen politischen Systems „starke Elemente der direkten oder indirekten Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger“ eingegangen sind. Die Bürger würden auf verschiedenen Wegen der Mitwirkung (lokale Wahlen und Zivilgesellschaft) Einfluss nehmen auf die Politik (Input-Legitimation), sowie dadurch, dass die Ergebnisse der Politik allen Bürgern zugutekommen (Output-Legitimation). Der passende Begriff dafür sei „konsultative Demokratie im Rahmen des Einparteienstaates“. Immer wieder geht der Autor dabei auf Paradoxien des chinesischen Systems ein, die erlauben, sich mit den Problemen jenes Systems weitergehend zu beschäftigen.
Im 8. Kapitel wird die funktionierende Mischwirtschaft als ein hybrides System von privatem und öffentlichem Eigentum, als „gelenkte Marktwirtschaft“ (Rainer Land zitierend), charakterisiert. Im 9. Kapitel wird bei der Darstellung der Politik gegenüber Uiguren und Tibetern versucht, die Diskussion auf „ein sachliches Format zurückzuführen, nachdem China des Völkermords […] bezichtigt wird“. Kapitel 10 ist besonders wichtig, weil Brie sich zu Stärken und Schwächen des gesellschaftlichen Systems Chinas äußert. Das 11. Kapitel ist der Darstellung der Rolle Chinas in der Welt gewidmet. Dabei werden die Perspektive und die zu lösenden Aufgaben einer multipolaren Weltordnung diskutiert.
China ist heute durch viele Produkte seiner Industrie und als aufsteigende Weltmacht bei uns präsent. Für die Einschätzung seiner Gesellschaft ist wichtig, ihre Widersprüchlichkeit und die Gefährdungen ihrer Entwicklung zu verstehen, von denen Brie viele scharf benennt, etwa die folgende: „Die größte Schwäche ist die, dass die Regierenden sich faktisch selbst ernennen.“. Auch der Einsatz der Informationstechnologie zur Kontrolle des Verhaltens von Menschen birgt viele Risiken. Allerdings sind das nicht selten allgemeine Gefahren der Moderne, die auch von liberalen Demokratien in kapitalistischen Gesellschaften gemeistert werden müssen, und es besteht kein Grund, allzu sehr die Gewissheit zu pflegen, bei uns im Westen gäbe es die einzig richtigen, oder auch nur die besseren Lösungen.
Michael Brie: Chinas Sozialismus neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen jenseits der Froschperspektive auf ein spannendes Experiment. VSA Verlag, Hamburg 2023, 174 Seiten, 14 Euro.
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