Etappe fünf – von Minden nach Nienburg, knapp 60 Kilometer.
Sogenannte Scheunenviertel waren hierzulande über Jahrhunderte eine gebräuchliche Methode, um überlebenswichtige Güter – vor allem Lebens- und Futtermittel – einerseits zentral, vor allem aber außerhalb von brand- oder hochwassergefährdeten Ansiedlungen zu lagern. Auch das Berliner Scheunenviertel – heute zwischen Hackeschem Markt und Rosa-Luxemburg-Platz gelegen – war ein solches Areal, als das Gebiet noch außerhalb der Stadtmauer lag. Doch Scheunen stehen dort schon seit über 100 Jahren nicht mehr. In Schlüsselburg an der Weser hingegen ist das historische Scheunenviertel in Gestalt von 26 dicht beieinander stehenden Zweiständerfachwerkbauten aus dem 17. und 18. Jahrhundert noch bestens erhalten.
Auch an diesem Weserabschnitt begegnen wir auf Wiesen entlang des Flusses und auf Feldern großen Schwärmen von Nilgänsen. Gerade im Herbst finden diese invasiven Zuwanderer auf abgeernteten Maisflächen reichlich Atzung. Klima und Nahrungsdargebot scheinen so gut zu sein, dass wir selbst Mitte September noch eine Gänsepaar mit einem halben Dutzend erst wenige Wochen alter Gössel antreffen. Die aggressive Spezies steht im Verdacht, einheimische Vogelarten aus ihren Brutrevieren zu vertreiben.
Bei unserer Ankunft in Nienburg an einem Donnerstagnachmittag ist die gesamte Altstadt voller Buden, Bühnen und Verkaufsstände; auch Schausteller haben aufgebaut. Am Abend, so erfahren wir im Hotel, werde das jährliche mehrtägige Altstadtfest eröffnet. Charakter – Rummel, aber mit ordentlich Kultureinlagen. Auf den acht Bühnen werden über 70 Bands erwartet. Einige Fahrgeschäfte haben bereits geöffnet. So bietet sich vom Scheitelpunkt eines Riesenrades aus das Panorama der Stadt und ihrer Umgebung quasi in Cinemascope dar. Doch unser Knüller – und frei nach dem Motto: wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen – nach gefühlt 50 Jahren erstmals wieder Runden mit einem Twister drehen. Einfach geil!
Im Stadtbild treffen wir auch die Kleine Nienburgerin, die Bronzeskulptur einer sehr juvenilen Tänzerin. Die ist die Symbolfigur der Stadt, allerdings ohne jeglichen Bezug zu deren Geschichte, sondern vor 50 Jahren von Marketingstrategen schnöde erdacht und 1975 von der Herfurter Künstlerin Marianne Bleeke-Ehret geschaffen. Wenige Meter weiter steht seit einigen Jahren überdies ein im Wortsinne behüteter Kleiner Nienburger.
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Exkurs: Dass Deutschland den Hugenotten so einiges Bedeutsame zu verdanken hat – wirtschaftlich, kulturell und kulinarisch: zum Beispiel bezüglich der Herstellung von Seide, Uhren und Glas ebenso wie in den Bereichen Theater, Architektur und Literatur, aber auch im Hinblick auf Weinanbau und feine Küche – ist leider längst kein Allgemeingut mehr. Dass auch die früher nicht nur bei Biskuit-Liebhabern geschätzten Bärentatzen mit ihrer schokoladigen Oberseite dazuzählen, lernen wir im Restaurant „Kanzler. Genusswirtschaft“, einer früheren Bäckerei in Nienburgs zentraler Langen Straße. Dort werden noch die originalen Förmchen gezeigt, aus denen heraus die Leckerbissen als Facombré’s Nienburger Biscuit-Kuchen – benannt nach der hugenottischen Erfinderfamilie – ihre Erfolgsgeschichte in deutschen Landen antraten.
Im „Kanzler“ wird übrigens auch das Frühstücksbuffet für die Gäste des gleichnamigen Hotels serviert, das allerdings – keine alltägliche Konstellation – einige Fußminuten entfernt liegt. Dort zu empfehlen – Zimmer 12. Von geradezu hochherrschaftlicher Größe und von sehr angenehmem Komfort.
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Etappe sechs – von Nienburg nach Verden, fast 60 Kilometer.
Schon nach knapp 20 Minuten Fahrzeit erreichen wir den Flecken Drakenburg. Wo sich dort heute ein Rittergut erstreckt, befand sich im frühen 17. Jahrhundert eine Schlossanlage, die mit einem imposanten, 1617 erbauten Renaissance-Torbogen Ankommende mit der Inschrift begrüßt: „Timenti dominum non deerit ullum bonum“ („Wer den Herrn fürchtet, dem wird nichts Gutes fehlen“). Zumindest auf das Portal selbst traf dies offenbar zu. Denn als der Ort samt Schloss 1627 niedergebrannt wurde, um den heranrückenden Kaiserlichen unter Tilly die Quartiernahme zu verweigern, überstand das Tor die Feuersbrunst und ebenso die nachfolgenden Zeitläufte bis zum heutigen Tage.
Einige Kilometer weiter setzen wir mit der einzigen Fähre an der Mittelweser über nach Schweringen. Erstmals auf unserem Trip mit einer Fährfrau, von der wir erfahren, dass sie sich den Job unter anderem mit drei weiteren Damen teilt. Die Strömung des Flusses ist an dieser Stelle zu schwach zum Gieren, also zum Fähren allein mit der Kraft des Wassers, so dass seit 2000 Motorkraft genutzt wird, elektrische. Ein Diesel ist nur noch für den Notfall an Bord.
Bei der Anfahrt auf Verden zeugt wieder einmal kilometerlang hoch würziges Güllearoma von der intensiven Landwirtschaft entlang der Weser. Unmittelbar am Stadtrand setzt linkerhand ein Schlag bunt blühender Gladiolen zumindest optisch einen erfreulicheren Kontrapunkt.
Etappe sieben – von Verden nach Bremen, nochmals um die 50 Kilometer.
Auf diesem Teilstück erwartet uns in Etelsen zunächst der größte Galerieholländer der Region, eine Kornwindmühle in diesem Falle, aber mit 23 Metern Höhe ein wahrer Gigant unter seinesgleichen. 1871 errichtet, vor Jahren durch private Initiative dem Verfall entrissen und seither liebevoll unterhalten. Eine Tafel informiert; Das Gebäude befinde sich auf dem 53. Breitengrad – zusammen mit Nottingham (Großbritannien), Minsk (Weißrussland) und Kamtschatka (Ferner Osten, Russland). Na, immerhin.
Kurz hinter dem Ort, auf einer ufernahen, ziemlich freien – also bar jeder Deckung – Wiese und am hellerlichten Vormittag – ein Fasanenhahn; in freier Wildbahn ja inzwischen eher selten zu sehen.
In Thedinghausen prunkt eines der schönsten Schlösser der sogenannten Weserrenaissance, erbaut 1620 aus roten Ziegeln und weiß gefugt. Bauherr war der damalige Bremer Erzbischof Johann Friedrich, dem eine stille Residenz vorschwebte, die zugleich standesgemäßer Wohnsitz für seine Geliebte sein sollte. Andere Zeiten, andere Sitten. Doch die Geliebte verstarb noch in der Bauphase, was dem Gebäude nicht zum Schaden gereichte – Johann Friedrich ließ es architektonisch zur fürstlichen Residenz für sich als Landesherrn aufedeln.
Nach weiteren 30 Kilometern im Sattel – Bremen. Der Empfang in der Altstadt ist im Wortsinne fürstlich – vor dem Dom, in Lebensgröße, unter Pickelhaube und hoch zu Ross sowie in Bronze bewillkommnet Reichsgründer Otto von Bismarck die Ankömmlinge.
Bremen und Bismarck? Die Geschichte geht so: Bereits drei Wochen nach dem Tode des Eisernen Kanzlers (1898) trat in der Hansestadt ein Komitee zusammen, um diesem ein Denkmal zu setzen von wegen dessen Reichseinigung und als Zeichen der bremischen Treue zum Kaiser (der B. bekanntlich abserviert hatte). Geld wurde gesammelt. 207.000 Reichsmark kamen bis 1904 zusammen und gingen durch Konkurs des kontoführenden Bankhauses komplett wieder perdu. Doch nun kommt’s: Binnen 48 Stunden wurde bei Senatoren und Kaufleuten die gleiche Summe erneut aufgetrieben. Das Denkmal wurde 1910 eingeweiht.
Ein Muss ist die nur 108 Meter lange Böttcherstraße zwischen Marktplatz und Weser, Bremens heimliche Hauptstraße – zwischen 1922 und 1933 in bestem Mittelalter-Stil als Gesamtkunstwerk errichtet durch die Architekten Eduard Scotland und Alfred Runge sowie den Bildhauer Bernhard Hoetger. Inspirator und Geldgeber war der Bremer Kaffee-Kaufmann und Mäzen Ludwig Roselius (Kaffee HAG). Auf ihn geht auch die Schaffung des in der Böttcherstraße gelegenen, 1927 als weltweit erstes Museum für eine Malerin eröffneten Paula-Modersohn-Becker-Hauses zurück, das einen umfangreiche Sammlung aus dem Œvre der Künstlerin präsentiert. – 1944 wurden große Teile der Böttcherstraße durch alliierte Luftangriffe zerstört, was Roselius nicht mehr miterleben musste. Er war im Jahr zuvor verstorben.
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In Bremen endet unsere Fahrt Weser abwärts. Ein Kleinbus befördert uns samt unseren Pedelcs zurück an den Ausgangspunkt der Tour, nach Hann. Münden, von wo aus unser Auto den Rücktransport nach Hause übernimmt. Eine eindrucksreiche Woche in einer der anregendsten und unterhaltsamsten Kulturlandschaften der Republik geht zu Ende …
Teil I und II dieser Reisenotizen sind im Blättchen 20/2023 und 21/2023 erschienen.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Weser