26. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2023

Weser abwärts*

von Alfons Markuske

Exkurs: Am Oberlauf der Weser befinden sich auch die „Stammlande“ derer von Münchhausen. Statius von M., Sohn des als Condottiere diverser Kriegsherren zu erheblichem Reichtum gekommenen Hilmar von M., erwarb 1590 den Flecken Bevern nahe Holzminden und errichtete dortselbst ab 1603 ein Schloss, das bis heute zu den prächtigsten der sogenannten Weserrenaissance zählt. Hieronymus Carl Friedrich von M. wiederum ging wider Willen als Lügenbaron in die Geschichte ein. An eine Publikation der mit phantasievollen Elementen angereicherten Erzählungen aus seinem bewegten Leben, die er auf seinem ererbten Gut in Bodenwerder an der Weser vor Freunden und Gästen zum Besten gab, hatte er selbst nie gedacht; das besorgten andere und verdienten teils gut daran. Sein tatsächliches Leben allerdings entbehrte bis in M.s letzte Tage nicht an Dramatik: Als – nach fast fünfzigjähriger Gemeinschaft – seine Ehefrau verstorben war, freite der inzwischen 74-Jährige eine 20-jährige, offensichtlich lebenslustige Offizierstochter, die ihm in kürzester Zeit Hörner aufsetzte. Im anschließenden dreijährigen Scheidungsprozess, dessen Ende der Kläger nicht mehr erlebte, denunzierte ihn die Angetraute mittels eines bereits erschienenen Münchhausen-Buches als „Lügenbaron“, um seine Glaubwürdigkeit vor Gericht in Zweifel zu ziehen …

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Etappe drei – von Hehlen nach Rinteln, etwa 60 Kilometer.

Weiter Weser abwärts und unweit von Hehlen liegt im linken Hinterland des Flusses das Rittergut Hämelschenburg mit einem besonders schönen Wasserschloss, ebenfalls Weserrenaissance.

Um dorthin zu gelangen, müssen wir zunächst bei Grohnde den Fluss queren. Gelegenheit, ein Wort mit dem Fährmann zu wechseln. Der ist Pächter des Gefährts. Seit 30 Jahren bereits. Übergesetzt werde heutzutage nur noch von April bis November. „Und was macht man dann im Winter“, wollen wir wissen. „Tauchlehrer in der Karibik“, antwortet der sportlich anmutende Mittfünfziger ohne Zögern. Und schiebt nach einer Kunstpause nach: „Scherz! Da ist endlich mal Freizeit, denn der Fährbetrieb läuft ansonsten sieben Tage die Woche …“

Direkt bei Grohnde muss ein Menetekel verfehlter deutscher Energiepolitik umfahren werden – das dortige AKW, das im Zuge der wirtschaftlich höchst fragwürdigen und im Hinblick auf Klimaschutz bigotten einheimischen Energiewende im Dezember 2021 stillgelegt wurde. Stattdessen wird nun, wenn der Wind mal nicht weht oder die Sonne nicht durchkommt, gegebenenfalls Atomstrom aus Frankreich und künftig vielleicht auch aus Polen importiert …

Im anschließenden Emmerthal erwischen wir den (weil nicht asphaltiert und somit für unsere Pedelecs) falschen Weg zum Rittergut. Doch wir erreichen es über Holperstrecken sowie bergan trotzdem und sind von dem Prunkbau entzückt. Ganz wesentlich erbaut durch Anna von Holle (1567 bis 1630), weil auch deren Gatte, Jürgen von Klencke, sich als Condottiere immer wieder in diversen Kriegen herumtrieb und daher die Bauaufsicht sowie das Aufziehen der 14 gemeinsamen Kinder weitgehend ihr überließ. Diese Anna war so durchsetzungsstark, dass es ihr im Dreißigjährigen Krieg sogar gelang, beim Anmarsch Tillys, der etliche Jahre später mit der Brandschatzung Magdeburgs ein über die Jahrhunderte hinweg wirkendes Beispiel kriegerischer Barbarei verantworten sollte, dessen Truppen nicht nur vom Schloss fernzuhalten, sondern mit ihm einen Schutzvertrag auszuhandeln. Das Schloss, das heute immer noch im Besitz der Familie Klencke ist, kann im Rahmen von Führungen besichtigt werden.

Auf bestem Radleruntergrund geht es anschließend über Emmern nach Hameln.

Gleich bei der Einfahrt in die Stadt begrüßt uns, hoch oben auf einer Fußgängerbrücke thronend, eine sehr groß geratene Ratte, komplett mit Blattgold überzogen. Und erinnert daran, dass der Name dieses Städtchens mit seinen pittoresken Fachwerk- und steinernen Bürgerhäusern aus dem 17. Jahrhundert und älter insbesondere mit der Sage vom Rattenfänger verbunden ist. Die wird auf das Jahr 1284 datiert und ist auf einem umlaufenden Spruchband am fünfgeschossigen, 1602/1603 errichteten sogenannten Rattenfängerhaus – ein Bürgerhaus mit originaler Renaissancefassade – verschriftlicht. Als die Einwohner der Stadt einem freischaffend umherziehenden Kammerjäger den versprochenen Lohn für ihre Befreiung von einer Mäuse- und Rattenplage verweigerten, entführte dieser 130 Hamelner Kinder, von denen keines je wieder aufgetaucht sein soll. Doch heute steht der betrogene Unhold in Bronze im Weichbild der Stadt.

Apropos Bronze: Unter den weiteren städtischen Denkmälern aus diesem Material befindet sich seit 1992 auch eines, das „Die Öffnung des Eisernen Vorhangs“ betitelt ist. Gestiftet von der Hamelner Unternehmerfamilie Vogeley und beim aus Sömmerda stammenden Bildhauer Wolfgang Dreysee in Auftrag gegeben, der langjährig Professor an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle war. Aufgestellt bei der Marktkirche Sankt Nikolai auf dem Pferdemarkt, ist eine der dargestellten Figuren, eine üppig barbusige Dame, offenbar von der delacroixschen inspiriert, die weiland auf den Barrikaden das Volk in die Freiheit führte. Direkt neben ihr ein Jüngling mit einer halbgeschälten, abbissfertigen Banane in seiner Rechten – dem ultimativen, dem DDR-Volk angedichteten Symbol der Freiheit. Behaupte nochmal jemand, dass der Ossi als solcher zur Selbstironie nicht in der Lage sei …

Am Tagesziel Rinteln treffen wir am fortgeschrittenen Nachmittag ein, jedoch gerade rechtzeitig, um dem Weser-Postillion, einer rot-gelb-blau gewandeten Figur am „Alten Museum“ (Kirchplatz), zu lauschen, der zweimal am Tag ein melodiöses Solo in hellsten Trompetentönen bläst. Auf dem nahen Marktplatz erwartet uns das frühere Rathaus, bestehend aus zwei mehrgeschossigen Gebäuden aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Darinnen zu ebener Erde heuer der Ratskeller, der, wie wir später feststellen werden, eine mehr als gediegene Küche anbietet.

Vor dem Gebäude und wiederum lebensgroß in Bronze ein Nachtwächter mit den üblichen Utensilien seiner Zunft – Laterne, Horn und Hellebarde.

Etappe vier – von Rinteln nach Minden, um die 50 Kilometer.

Bereits aufs Ende dieses Teilstücks zu nicht übersehbar ist das Wahrzeichen der Stadt Porta Westfalica, die rechts der Weser liegt. Am gegenüberliegenden Ufer, auf dem Wittekindberg, in typisch wilhelminischer Trutzigkeit, vulgo wehrhaft statt elegant, sogenannter Zyklopenstil, das 1896 in Anwesenheit des Monarchen eingeweihte insgesamt 88 Meter hohe Kaiser-Wilhelm-Denkmal. (Zum Vergleich: das ebenfalls zu Ehren Kaiser Wilhelms I. hoch geklotzte Barbarossa-Denkmal auf dem Kyffhäuser misst dreißig Meter weniger.)

Was es mit Wittekind auf sich hat, ist wenig später in Minden zu erfahren, anhand der Sage über die Namensgebung der erstmals im Jahre 798 urkundlich erwähnten Stadt: Im achten Jahrhundert kämpften die heidnischen Sachsen unter ihrem Herzog Widukind (auch Wittekind oder Weking) gegen die Eroberung durch den Frankenkönig Karl der Große, bis der Herzog sich ob eines Quellwunders doch zum Christentum bekehrte. In seiner Burg an der Weser kam es zum Friedensschluss. Diese Burg solle nun „min und din“ sein, bot Widukind an, worauf Karl replizierte: Dann soll die Stadt auch „min-din“ heißen.

Binnenschiffern allerdings ist der Ort aus eher prosaischen Gründen ein Begriff: durch das Mindener Wasserstraßenkreuz, das zweitgrößte der Welt. Es verbindet seit über 100 Jahren die Weser mit dem Mittellandkanal, was nach Westen Schifffahrt bis zum Rhein und den angeschlossenen Wasserstraßen ermöglicht und im Osten nach Berlin und weiter zur Oder. Über eine knapp 350 Meter lange Trogbrücke wird der Kanal über die Weser geführt. Schleusen ermöglichen Schiffspassagen hinunter zur 13 Meter tiefer liegende Weser und umgekehrt.

Wird fortgesetzt.

 

* – Teil I dieser Reisenotizen ist im Blättchen 20/2023 erschienen.