26. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2023

Weser abwärts

von Alfons Markuske, zz. Rinteln (Niedersachsen)

Es begann wie meistens: Bis wir an einem spätsommerlichen Samstag gegen 16.30 Uhr unser Zimmer in Hann. Münden bezogen, war mangels Zeit noch kein Blick in den Reiseführer geworfen worden. Das tat ich jetzt, um meiner Frau beim ordnenden Auspacken unserer Urlaubsutensilien nur ja nicht in die Quere zu kommen. Daher wusste ich wenige Minuten später, dass der Eisenbart, ein Glockenspiel am Renaissance-Rathaus des Städtchens, nur dreimal täglich ertönt – letztmalig um 17.00 Uhr. Hieß: Alles stehen und liegenlassen, um sich in die Sättel der Pedelecs schwingen … 16.55 Uhr standen wir auf dem Markt, erfreuten uns an der überaus pittoresken Fassade des Rathauses und harrten der Töne, die da kommen sollten. Punkt 17.00 Uhr – fünf Glockenschläge. Ruhe. Das war’s jetzt? Schon wandte sich der ortsunkundige Tourist mit einem Anflug von Enttäuschung ab, da setzte mit nachgerade barocker Lautstärke das Glockenspiel ein und intonierte das Eisenbart-Lied („Ich bin der Dr. Eisenbart, widewidewitt bum, bum, heil die Leut‘ nach meiner Art, widewidewitt bum, bum …). Begleitet von einer mechanischen Installation: Aus einem der obersten Fenster des Rathauses wird auf einem Zahnarztstuhl ein sich mit Händen und Füßen wehrender Patient herausgeschoben, dem sich aus dem Fenster daneben der Dr. Eisenbart nähert, in den Händen das Mittel wie auch das vorweggenommene Ergebnis der bevorstehenden Tortur – eine überdimensionierte Zange mit einem frisch gezogenen Zahn samt blutiger Wurzeln.

Eisenbart ist bekanntlich bis heute ein volksmundlich gebrauchtes Synonym für Kurpfuscher, steht aber wohl mehr für die brachialen und häufig erfolglosen Behandlungsmethoden seiner Zeit. Dem Vernehmen nach soll Johann Andreas Eisenbart, geboren 1663, der in die Fußstapfen seines Vaters (Wund- und Augenarzt) trat und als mobiler Praktiker im deutschen Sprachraum weitläufig unterwegs war, nämlich durchaus besser gewesen sein als sein Ruf. Doch das hat seinem zweifelhaften Nachruhm keinen Abbruch getan. In Hann. Münden jedoch, wo er 1727 starb und in der Sankt Ägidienkirche direkt vor dem Altar bestattet wurde, hält man ihn in hohen Ehren. Er ist allgegenwärtig – als lebensgroßes Denkmal im Stadtbild, als Türknauf am Bed & Bike Hotel oder als Bierhausmarke im Restaurant des Ratsbrauhauses …

Hann. Münden, mit etwa 700 Fachwerkhäusern in der Altstadt ein beeindruckendes, aber höchst lebendiges Baudenkmal, ist der Startpunkt des Weserradweges, der sich über 500 Kilometer bis Cuxhaven erstreckt und den wir bis Bremen abradeln wollen.

Die Weser zählt zu den nicht eben häufigen Flüssen, denen es an einer eigenen Quelle ermangelt. Die Weser borgt sich stattdessen jene von Werra und Fulda, die im Stadtbild zusammenfließen und von da an Weser heißen. Auf dem sogenannten Weserstein am Ort des Geschehens ist vermerkt: Wo Werra sich und Fulda küssen / Sie ihre Namen lassen müssen. / Und hier entsteht durch diesen Kuss / Deutsch bis zum Meer der Weser Fluss. So dichtete man 1899, nationalistischen Schlenker inklusive.

Am nächsten Tag – Etappe eins von Hann. Münden nach Beverungen, knapp 60 Kilometer.

Der Radweg führt durch Wald und Feld, häufig vorbei an Weidewiesen mit äsenden Rindern, seltener an Pferdekoppeln, und weitgehend entlang am Ufer des Flusses, der sich ziemlich behäbig in Richtung Nordsee schiebt. Das Weserbergland macht seinem Namen alle Ehren, doch für uns geht es meistens eher bergab. Bis auf eine 25-prozentige Steigung, deren Ende im Sattel der Pedelecs zu erreichen wir beim nächsten Anlauf einfach nochmal üben müssen.

An der Strecke – Bad Karlshafen. Hier wollte Landgraf Carl von Hessen einst mit Hilfe französischer Glaubensflüchtlinge, Hugenotten, denen er Asyl bot, eine moderne Handels- und Hafenstadt errichten. Das Hafenbecken wurde zwar fertig, aber mit dem kommerziellen Schiffsverkehr klappte es seinerzeit nicht. Heute dümpeln im Wasser immerhin einige Motorjachten. Ein prächtiges barockes Häuserensemble fasst die Szenerie ein.

Weiter Weser abwärts. Irgendwann ein abgestiegener Radler am Wegesrand, das Smartphone in Fotografenpose: „Ein kleiner Waschbär!“ Und tatsächlich – ein putziger Winzling von vielleicht 25 Zentimeter Körperlänge kämpft sich durch das für ihn hohe Gras. Ein nahes Gesträuch ist wahrscheinlich der Unterschlupf. Vielleicht hat ihn die lange Abwesenheit der Fähe verleitet, die Nase schon mal selbst in die Umwelt zu stecken. Der niedliche Anblick lässt einen glatt vergessen: eine invasive Art, die sich in Ermangelung natürlicher Fressfeinde ungehindert ausgebreitet hat und durch das Ausräubern von Vogelnestern und andere „Unarten“ erheblichen Schaden anrichtet.

Zur rechten, nämlich zur Mittagszeit, bei einer der Fähren, die die Weser in (un)regelmäßigen Abständen queren – ein Gasthof mit vorgeschaltetem Grill samt einer Beschilderung: „Letzte Bratwurst vor Niedersachsen!“ Wir nehmen das als wohlgemeinte Warnung und das Angebot an. So erreichen wir im Laufe des Nachmittags zwar erschöpft, doch wenigstens nicht ausgehungert unser Quartier in Beverungen.

Die abendliche Einkehr auf Empfehlung der Quartierwirtin erfolgt im Hotel Stadt Bremen. Der zugehörige Biergarten, mit einem Straßenbahnfahrzeug aus den 1950er Jahren um so eindrucksvoller drapiert, als in Beverungen (13.000 Einwohner) solch ein ÖPNV-Standbein nie gefahren ist, leider voll besetzt. Erster Eindruck vom Interieur des Hauses – die jüngste Modernisierung/Renovierung hat keinesfalls in diesem Jahrhundert stattgefunden. Doch der Service macht dies allemal wett: Restaurantbedienung überaus freundlich und dann ein Roastbeef so auf den Punkt zubereitet, à la bonne heure. Auch die hierzulande in der Gastronomie längst ubiquitäre Unsitte, die Salatbeilagen möglichst in Gestalt ganzer Blätter zu servieren, hat man sich im Hotel Stadt Bremen nicht zueigen gemacht …

Etappe zwei – von Beverungen nach Hehlen, knapp 70 Kilometer.

Kurz hinter Beverungen, hoch über der Weser, jedoch auf deren anderer Seite – das imposante Schloss Fürstenberg. Liebhabern feinsten Porzellans durch das markante blaue „F“ ein Begriff. Bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts und bis heute wird produziert. Die Fußgänger- und Radlerfähre Wehren, eine der am Oberlauf der Weser gebräuchlichen sogenannten Gierfähren, die ihre Passagen allein mittels der Strömung meistern, soll uns übersetzen. Aber – Pech: Wir sind viel zu früh am Anleger, denn montags bis freitags wird erst ab 11:00 Uhr gequert. Also muss ein Blick vom falschen Ufer beim Vorbeiradeln genügen.

Erster Halt in Höxter, einer Kleinstadt direkt am Fluss. Dass wir uns in dieser Gegend im Bereich der Deutschen Märchenstraße bewegen, war uns schon gestern beim Hotel Stadt Bremen aufgefallen: Den Eingang zierten, schmiedeeisern, die Bremer Stadtmusikanten. Nun begegnen wir Hänsel und Gretel sowie der Hexe, in Bronze und lebensgroß, direkt auf dem Trottoir, und der angewinkelt lockende Zeigefinger der bösen Frau glänzt strahlend golden. Wie Bronze halt reagiert, wenn sie häufig von menschlichen Fingern gerieben wird. Soll Glück bringen?

Die zahlreichen liebevoll restaurierten und gepflegten Fachwerkhäuser Höxters aus der Mitte des 16. Jahrhunderts sind ein ums andere Mal eine Augenweide, getoppt noch vom alt-ehrwürdigen Rathaus des Ortes.

Nur wenige Kilometer hinter Höxter – Weltkulturerbe der besonders eindrucksvollen Art: das ehemalige Benediktinerkloster Corvey. Mit 1200-jähriger Geschichte und teilerhaltener karolingischer Kaiserkirche aus dem neunten Jahrhundert. In diesem Jahr ein passendes Ambiente für die Landesgartenschau Nordrhein-Westfalens.

Auffällig entlang der Oberweser sind zahlreiche mit Caravans und Wohnwagen auch im Früherbst noch gut bestückte Campingplätze. Nummernschilder aus den Niederlanden und Großbritannien zeugen von Beliebtheit über die Landesgrenzen hinaus. Auch ein CB-Nummernschild fällt uns auf.

Direkt im Uferbereich des Flusses, mit den Beinen im Wasser, immer wieder Lauerjäger in starrer Erwartung auf Beute – Graureiher. Darunter auch einmal ein schlohweißer Artgenosse. Gibt es Albinos unter Vögeln?

Bei der Anfahrt auf Hehlen jenseits der Weser ins Auge sticht das repräsentative Wasserschloss des Ortes, erbaut im späten 16. Jahrhundert. Bis 1956 im Besitz des Hauses von der Schulenburg. Dann waren die klamm? So konnte der Inhaber des hannoverschen Unternehmens Machwitz Kaffee zuschlagen. Vulgo – Privatbesitz, betreten verboten!

Ganz anders die protestantische Immanuel-Kirche zu Hehlen, aus dem späten 17. Jahrhundert. Ein freundliches Kirchlein mit allzeit offener Tür und eine architektonische Besonderheit: eine sogenannte Zentralraumkirche. Mit einer sehr prominenten Schwester, denn die bekannteste Kirche dieses Typs ist – die Frauenkirche in Dresden.

Wird fortgesetzt.