Der Vorsitzende des Repräsentantenhauses, des „Unterhauses“ des US-Parlaments, namens Kevin McCarthy von der Republikanischen Partei wurde am 3. Oktober plötzlich und unerwartet abgewählt. Kommentatoren vermerkten, das sei so noch nie passiert. Der McCarthy hatte zuvor einen Übergangshaushalt durchgesetzt, dem auch der Senat und der Präsident zugestimmt hatten, mit dem Ziel, einen sogenannten „Shutdown“ zu verhindern. Der 2022 vom Parlament gebilligte US-Haushalt lief am 30. September aus, ein neuer war nicht zustande gekommen. Das Haushaltsrecht liegt in den USA seit deren Gründung ausschließlich beim Parlament; ohne beschlossenen Etat wird die reguläre Tätigkeit der Bundesbehörden automatisch eingestellt, Soldaten erhalten keinen Sold, Nationalparks werden geschlossen, die Lebensmittelhilfen für arme Familien laufen aus, Sozialhilfe- und Rentenanpassungen finden nicht statt. So war die Finanzierung der US-Regierung und wichtiger Sozialprogramme bis 17. November 2023 gewährleistet.
Der Deal zwischen McCarthy, den Demokraten und der Biden-Administration enthielt jedoch nicht die von den Republikanern geforderten Etatkürzungen. Bis auf die Forderung, keine zusätzlichen Gelder für die Ukraine zu bewilligen. Dazu gab es jedoch, wie verlautete, eine Abrede, dies in einer gesonderten Beschlussfassung quasi nachzuschieben. Ohne Vorsitzenden jedoch ruht die gesetzgeberische Tätigkeit im Repräsentantenhaus; er bestimmt die Tagesordnung und welche Beschlussvorlagen wie in die Beratung kommen.
Betrieben hatte den Sturz McCarthys der Abgeordnete Matt Gaetz aus Florida, der ebenfalls der Republikanischen Partei angehört. Der nannte McCarthy wegen des Deals mit den Demokraten „eine Kreatur des Sumpfes“ – womit die politische Klasse in Washington gemeint ist. Er aber, Gaetz, werde den „Sumpf“ trockenlegen. Die Abwahl McCarthys erfolgte mit 216 zu 210 Stimmen; mit Gaetz stimmten zwar lediglich sieben weitere Republikaner gegen McCarthy. Zugleich aber auch alle 208 bei der Abstimmung anwesenden Abgeordneten von den Demokraten.
US-Präsident Joe Biden forderte dazu auf, rasch einen neuen Vorsitzenden des Repräsentantenhauses zu wählen. „Die dringenden Herausforderungen für unser Land werden nicht warten“, ließ seine Sprecherin Karine Jean-Pierre wissen. Die kurze Frist des Übergangshaushaltes bis 17. November lässt ohnehin wenig Zeit für ernsthafte Haushaltsdebatten; je länger es dauert, bis es einen neuen Vorsitzenden gibt, desto mehr verkürzt sich diese Zeitspanne.
Im Kern sind es politische Debatten, nicht nur Republikaner versus Demokraten. Es geht um das Verhältnis zwischen den urbanen, gebildeten, „woken“ Milieus an den Küsten, die meist demokratisch wählen, und den oft weniger gebildeten, konservativen, stärker religiösen Milieus in den weiten ländlichen Räumen, und es geht um Themen wie mehr oder weniger Steuern, mehr oder weniger Ausgaben für Soziales, Gesundheit und Umwelt. Am Ende geht es auch um die US-amerikanische Geopolitik: Wie zentral ist der Krieg in der Ukraine gegen Russland aus Sicht der USA, wenn doch China als der eigentliche Gegner gilt? Wieviel Geld sollten die USA der Ukraine künftig zahlen, wenn die großangekündigte „Gegenoffensive“ militärisch so wenig erreicht hat?
Wenn der Posten des Vorsitzenden des Repräsentantenhauses so wichtig ist, wie Biden nunmehr verlauten ließ, hätten die Abgeordneten der Demokraten sich natürlich auch anders verhalten können. Die als links geltende Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez verkündete als erste, sie werde gegen McCarthy stimmen. Es hieß, es sei nicht Aufgabe der Demokraten, „McCarthy vor dem ‚Bürgerkrieg‘ in den eigenen Reihen zu retten“. Die taz kommentierte: „Am Ende zogen alle anderen [Abgeordneten von den Demokraten – E.C.] mit und beobachten durchaus freudig die Selbstzerstörung der Republikanischen Partei.“ Je länger der Stillstand aber anhält oder wenn es gar im November zu dem jetzt abgewendeten Shutdown kommt, dann fällt dies jedoch auf die Biden-Administration zurück. Sie ist es dann, die politisch handlungsunfähig wird. Insofern wäre es jetzt vielleicht doch politisch geschickter gewesen, stillschweigend acht oder zehn Demokraten zu beauftragen, so abzustimmen, dass McCarthy hätte im Amt bleiben können.
Nicht nur in Deutschland, auch in anderen EU-europäischen Ländern war „Chaos“ das beliebteste Kommentar-Wort. Und es wurde stets den Republikaner angeheftet. Das Agieren der Demokraten im Repräsentantenhaus zeigt allerdings, dass sie Teil der „Chaos“-Konstellation im politischen Gefüge der USA sind. Im Hintergrund steht die Angst, Donald Trump oder ein ihm ähnlicher Republikaner könnte im nächsten Jahr wieder ins Weiße Haus gewählt werden. Für die EU und die „nordatlantische Welt“ würde sich dann vieles erneut ändern. Bereits in Bezug auf den Ukraine-Krieg hieß es auf dem Gipfel der „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ in Granada am 5. Oktober 2023, „Europa“ werde nicht in der Lage sein, eine ausfallende oder reduzierte US-Unterstützung für Kiew zu kompensieren.
Die Washington Post erinnerte daran, dass die Republikaner den Staat nicht nur zum Shutdown der öffentlichen Dienste führen könnten, sondern an den Rand eines Defaults, also der Nichtbegleichung von Staatsschulden. Dann könne man mit einem „planetarem Chaos“ rechnen. Das ist ein zutreffender Verweis darauf, dass die globalstrategische Machtposition der USA nicht nur auf ihrem Militär und den von den USA kontrollierten Finanzströmen basiert, sondern auch auf deren Schulden. Die beliefen sich nach dem Ersten Weltkrieg auf 25,5 Milliarden US-Dollar, 1950 auf 260 Milliarden Dollar, 1992 – nach zwölf Jahren republikanischer Regierung von Ronald Reagan und George Bush Senior – auf 5,39 Billionen, am Ende der Amtszeit von George W. Bush Junior – mit den Kriegen in Afghanistan und Irak – auf 10,71 Billionen Dollar und nach Barack Obama und der Finanzkrise der Jahre 2008 und folgende Ende 2016 auf fast 20 Billionen. Heute sind es über 33 Billionen US-Dollar.
Bei dem Deal von McCarthy zum Übergangshaushalt und zur Vermeidung des Shutdowns ging es also nicht nur um die Vermeidung der Haushaltssperre, sondern auch um die Zahlungsfähigkeit der USA. Deren Bundesregierung hat seit den Zeiten von George Washington ihre Schulden und die allfälligen Zinsen immer bezahlt. Yanis Varoufakis, der in der griechischen Linksregierung auf dem Höhepunkt der Euro-Krise 2015 Finanzminister war, hat darauf hingewiesen, dass die USA seit Anfang der 1970er Jahre ihre Defizit-Position zu einem Hebel hegemonialer Macht gemacht haben. Die Folge ist, dass Staaten, die Überschüsse im Wirtschaftsverkehr mit den USA erwirtschaften, diese wieder in US-Dollar und US-Staatsanleihen anlegen. Varoufakis nannte dies den „globalen Minotaurus“: Wie einst die Athener dem mythischen Fabeltier auf Kreta Tribute zollten, nährt heute die Weltwirtschaft die USA.
Das „Chaos“ in Washington ist letztlich eine Auseinandersetzung um die künftige Geopolitik und die Machtstellung der USA in der Welt.
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