26. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2023

Wie Mao in deutsche Köpfe kam (VI)

von Wolfram Adolphi

Der „Lange Marsch“ 1934/35 als „Fundament für den großen, epochemachenden Neubau Chinas“: So nahm der deutsche Kommunist Asiaticus schon 1935 vorweg, was später zu einer der zentralen Säulen des Selbstverständnisses der Gongchandang – der KP Chinas – werden sollte.

Der „Lange Marsch“ bewahrte das Erbe der seit 1928 in Südostchina mit der Hauptstadt Ruijin errichteten, dann aber von den Guomindangtruppen unter Jiang Jieshi zerschlagenen Sowjetgebiete, verlagerte den Schwerpunkt des revolutionären Kampfes ins nordwestlich gelegene Shaanxi-Gansu-Ningxia-Grenzgebiet mit der Hauptstadt Yan’an und formte jenen Kern der Gongchandangführung, der 1937 die Guomindang zur Zusammenarbeit gegen den Aggressor Japan zwingen, 1946 bis 1949 den Bürgerkrieg gegen die Guomindang siegreich gestalten und 1949 die VR China gründen sollte. Und: Er wurde mit der im Januar 1935 in der kleinen Stadt Zunyi durchgeführten Parteikonferenz zum Ort des Triumphes von Mao Zedong über seine innerparteilichen Gegner und des Beginns seiner bis zu seinem Tode am 9. September 1976 dauernden 40jährigen Herrschaftszeit.

Und es sei das Folgende noch einmal nachdrücklich unterstrichen, weil es zum Erbe des Blättchens gehört: Diese Prognose des Asiaticus stand nicht irgendwo, sondern – am 13. Juni 1935 – in der im antifaschistischen Exil in Prag erschienenen Zeitschrift Die neue Weltbühne, und sie erreichte damit Frauen und Männer, die ihrer antifaschistischen Haltung wegen aus dem faschistischen Deutschland geflohen waren und begierig jedes Signal der Hoffnung aufsogen, dass die Idee der sozialistischen Revolution nicht sterben und der Aufstieg des Faschismus nicht das letzte Wort der Geschichte sein würde.

Aber woher nahm Asiaticus, der im November 1941 an der Seite chinesischer Partisanen im Kampf gegen die japanischen Eroberer ums Leben kommen sollte, die Kühnheit zu einer solchen weit in die Zukunft reichenden Voraussage? Sie erwuchs wohl aus der Intensität, mit der dieser Mann wie kaum ein anderer Europäer leibhaftig und mit großer intellektueller Wachheit über viele Jahre hinweg mit der chinesischen Revolution verbunden war. Zeugnis davon legte er erstmals im Jahre 1928 ab, als er – schon vor seinen in Teil V genannten Wortmeldungen in der Weltbühne – mit dem im Agis-Verlag Wien-Berlin erschienenen Buch „Von Kanton bis Schanghai 1926-1927“ auf sich aufmerksam machte. Seine Tätigkeit in China in dieser Zeit rekapitulierend, wählte er zur Einleitung den so dürren wie pathetischen Satz, wonach das Buch „nichts als Tagesjournalismus im Dienste der chinesischen Revolution“ enthalte. „Tagesjournalismus“, das meint: Asiaticus, in Wuhan lebend, verfasste Artikel, die „dortselbst in den offiziellen Organen der Nationalregierung und des Hauptquartiers der nationalrevolutionären Armee erschienen“, und zwar in der Zeit des revolutionären Zusammenwirkens von Guomindang und Gongchandang „von den Mai-Ereignissen des Jahres 1925 bis zum Verrat der Bourgeoisie und ihres kleinbürgerlichen Anhangs an der nationalen Revolution und dem Auseinanderfallen der Wuhanregierung“ im April 1927.

Der Sammlung dieser Artikel und verschiedener offizieller Dokumente der nationalrevolutionären Regierung vorangestellt ist eine fünfzigseitige Darstellung „Die chinesische Revolution 1925-1927“, deren Schlussabschnitt in der Voraussage gipfelt, dass die KP Chinas als „Partei, die in den ersten Jahren ihrer Geschichte eine solche gewaltige Arbeit der Revolutionierung nicht nur des chinesischen Proletariats, sondern auch der Millionenmassen der Bauernschaft und der kleinbürgerlichen Armut geleistet hat, trotz aller Niederlagen auch die Partei des Sieges und der siegreichen nationalen und sozialen Revolution sein wird [Hervorhebung i.O.]“, während die Guomindang „jetzt bereits geschichtlich ein stinkender Kadaver geworden“ sei.

Und dann – und darum gebührt ihm hier doppelte Aufmerksamkeit – gibt es in diesem Buch eben auch Mao Zedong. Schon 1928, also noch vor seiner ersten Erwähnung in der Roten Fahne im April 1929. Aber das ist weitgehend unbeachtet geblieben. Damals – und auch späterhin. Selbst die Pionierin der Asiaticus-Forschung, die DDR-Sinologin Helga Scherner (1929-2021), hat diesen Text nicht erwähnt.

Worum also geht es? Auf den Seiten 273-276 des Asiaticus-Buches findet sich ein „Dokument XIII“, als Quelle ist angegeben die Chinese Correspondence, das Wochenorgan des Zentralexekutivkomitees der Guomindang, Nr. 8, Wuhan, 15. Mai 1927, und es trägt die Überschrift „Die Revolution in den Dörfern“, und darunter steht „Von Mao Tze Tung [Mao Zedong]“. Dieser Zusatz fehlt jedoch im Inhaltsverzeichnis, und auch nirgends sonst im Buch findet Mao noch irgendeine Erwähnung.

Dabei sollte dieser Text später enorme Bedeutung erlangen. Als „Untersuchungsbericht über die Bauernbewegung in Hunan“ steht er in den 1952 in Beijing offiziell herausgegebenen Ausgewählten Werken Mao Zedongs im Band I an zweiter Stelle und gilt als Schlüsseltext für die Orientierung Maos auf die revolutionäre Bauernschaft. Dass er in dieser Fassung auf eine Länge von 42 Seiten angewachsen ist, soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Viel wichtiger sind hier die schon 1928 in Deutschland zu lesenden Mao-Sätze: „Die Bewegung der Bauern ist einer der wichtigsten Faktoren der Revolution geworden. Schon jetzt haben sich Hundertausende erhoben, und bald werden es Millionen überall in China sein, im Zentrum, im Norden und im Süden. […] Jede Partei und jede Regierung wird mit dieser Bewegung rechnen müssen. Ihre Haltung gegenüber den erwachenden Bauern wird die entscheidende Grundlage ihres Erfolges sein. Und auch alle anderen Klassen werden die Frage beantworten müssen: Für oder gegen die Bauern? Das Erwachen der Bauern sichert ihnen und ihren Verbündeten den Sieg und vernichtende Niederlage ihren Feinden.“

Wird fortgesetzt.