Der Ukraine-Krieg wird – wie bereits früher, im Blättchen 8/2023, zu konstatieren war – auf drei Ebenen geführt: als Schießkrieg im Feld, als Wirtschaftskrieg zwischen dem „kollektiven Westen“ und Russland und als Propagandakrieg. Dabei korreliert die zunehmende Lautstärke des letzteren aus Kiew mit den Schwierigkeiten an den Fronten. Das hat sich in den vergangenen Monaten nochmals verstärkt.
Der Wirtschaftskrieg schadet augenscheinlich eher seinen Urhebern und Betreibern im Westen als Russland. Während Deutschland als wohl einziger G20-Staat das Jahr 2023 mit einem Minus abschließen wird, wächst die russische Wirtschaft um 1,5 Prozent. Nicht nur die Kriegsindustrie boomt, auch die Textil- und die Lebensmittelproduktion. Die westlichen Sanktionen haben Substitionseffekte ausgelöst. Die Gehälter steigen. Die Mittelklasse spürt Einschränkungen: Hatte man früher im Westen Urlaub gemacht und westliche Waren gekauft, so sind jetzt Urlaub im Inland und heimische Waren oder solche aus China angesagt. Die ärmeren Schichten jedoch erleben steigende Reallöhne. Politisch betrachtet, haben die westlichen Sanktionen jedenfalls nicht zu einem Umsteuern der Moskauer Konfliktpolitik geführt.
Die groß angekündigte „Gegenoffensive“ der Ukraine hatte sich derweil irgendwie in den Weiten des Landes festgefahren. In der Washington Post, Ausgabe vom 10. August 2023, hieß es zwei Monate nach Beginn der Offensive unter Bezugnahme auf Geheimdienste, die ukrainischen Truppen würden die strategisch wichtige Stadt Melitopol im Süden, um die russischen Verbindungswege zur Krim zu stören oder gar zu unterbrechen, nicht erreichen und erst recht nicht bis zum Asowschen Meer vordringen können. Damit würde das Hauptziel der Offensive nicht erreicht.
Um die Unterstützung der USA, in denen 2024 gewählt wird, sowie die der NATO beziehungsweise „des Westens“ zu erhalten und der ukrainischen Bevölkerung Ergebnisse zu präsentieren, wurden Ersatz-Ergebnisse präsentiert: Am Riesendenkmal für „Mutter Heimat“ in Kiew – 1981 eingeweiht durch KPdSU-Generalsekretär Leonid Breshnew – wurden Hammer und Sichel als Symbole der Sowjetunion entfernt und durch den ukrainischen Dreizack ersetzt. Nur hatte der ukrainische Nationalismus nichts mit dem Sieg über den Hitlerfaschismus zu tun, eher im Gegenteil. Zugleich wurden in der ganzen Ukraine Straßen umbenannt, eine Moskau-Straße sollte es nicht mehr geben. Bibliotheken wurden weiter auf russische Literatur gefilzt, zu der auch Tolstoi und Dostojewski gehören.
Auch militärisch verlegte man sich auf sichtbare Ersatzhandlungen, darunter Angriffe auf Brücken zur Krim, Drohnen-Angriffe auf Moskau und auf andere Städte in Russland. Damit sollte der Krieg in das Land getragen werden, aus dem er kam. Die russische Bevölkerung sollte ihn selbst spüren. Das war jedoch eher Teil der psychologischen Kriegsführung, als dass es militärische Effekte im Sinne der Gegenoffensive zeitigte.
Die Kyiv Post publizierte bereits Ende Juli erschütternde Berichte von der Front. Die Gegenoffensive fordere einen hohen Preis, trotz westlicher Waffen seien die Verluste enorm hoch, wegen der russischen Abwehrlinien kämen die ukrainischen Truppen nur mühsam voran. Alle hundert Meter Land, die die Ukraine gewinne, kosteten den Verlust von vier bis fünf Infanteristen; für jeden erkämpften Kilometer verlöre man eine halbe Einheit.
Die Ukraine hält ihre Verluste ganz offiziell geheim, auch gegenüber den USA, und veröffentlicht nur Zahlen zu den tatsächlichen oder angeblichen Verlusten der russischen Seite. Die New York Times schätzte im August die Zahl der in den Kämpfen gefallenen Ukrainer auf 70.000, die der Verwundeten auf 100.000 bis 120.000. Dabei ging sie davon aus, dass die Verlustrate der ukrainischen Seite mit der Sommeroffensive gestiegen sei. Statt eines Vormarsches zum Asowschen Meer verwandelte sich das Kriegsgeschehen wieder in einen Abnutzungskrieg. Nach russischen Angaben wurden seit Beginn der Sommeroffensive 43.000 ukrainische Soldaten getötet oder verwundet. Das dürfte ein beträchtlicher Teil der für die Offensive im Sommer bereitgestellten Truppen sein.
Angesichts dessen wurde der Ruf nicht nur nach mehr westlichen Waffen, sondern auch nach neuen Soldaten laut. Der Sekretär des Nationalen Rates für Sicherheit und Verteidigung, Olexij Danilow, sagte Ende August im ukrainischen Radio: „Ja, die Militärs haben sich an uns gewandt und es wird wohl eine zusätzliche Einberufung geben.“ Das sei keine außerplanmäßige Maßnahme, sondern erfolge auf der Grundlage der am 24. Februar 2022 festgelegten Parameter. Seit Kriegsbeginn besteht Ausreiseverbot für wehrpflichtige Männer zwischen 18 und 60 Jahren.
Allerdings war es wohlhabenden Ukrainern in den vergangenen anderthalb Jahren möglich, die Einberufung zu umgehen – das kostete in der Regel 9000 Euro in bar. Nachdem einige der eklatantesten Fälle publik geworden waren – der Chef des Einberufungsamtes in Odessa hatte am Ende mindestens 4,6 Millionen Euro eingenommen – verfügte Präsident Selenskij die Ablösung aller Leiter der für die Rekrutierung zuständigen Regionalbüros. Die Staatsanwaltschaft deckte bei einer Razzia in mehr als 200 Büros Korruptionsdelikte auf. Selenskij verkündete, Korruption während des Krieges wie Landesverrat bestrafen lassen zu wollen.
Wer nach Entrichtung seines Schmiergeldes die Wehruntauglichkeit bescheinigt bekommen hatte, konnte legal ausreisen. Viele andere versuchten es illegal. Ein Sprecher des Grenzschutzes erklärte faz.net am 5. September im ukrainischen Fernsehen, seit dem 24. Februar 2022 seien über 20.000 wehrpflichtige Männer an der Flucht aus dem Lande gehindert worden; 14.600 wurden festgenommen, 6200 mit gefälschten Ausreisegenehmigungen ertappt. Mindestens 19 Männer seien im Grenzfluss Theiss an der Grenze zu Rumänien und Ungarn ertrunken, weitere in den Karpaten erfroren. Gemäß Eurostat, der EU-Statistik-Behörde, sind in den 27 EU-Staaten sowie in Norwegen, der Schweiz und Liechtenstein mehr als 650.000 ukrainische Männer im Alter von 18 bis 64 Jahren als Flüchtlinge registriert. Es heißt, die ukrainische Regierung habe vor, von den EU-Staaten die Auslieferung illegal ausgereister Wehrpflichtiger zu verlangen. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisierte diesen Umgang der Ukraine: Jeder Mensch habe das Recht, den Kriegsdienst zu verweigern. Nach polnischen Medienberichten plant die Ukraine die Rückholung von etwa 80.000 Männern. Aber selbst in Polen, das Kiew sonst in jeder Hinsicht unterstützt, hieß es, dazu müssten die ukrainischen Behörden für jeden einzelnen einen Internationalen Haftbefehl erwirken, und auch dann werde jeder Einzelfall von polnischen Gerichten geprüft.
Anfang September meldeten die ukrainischen Truppen einen Teildurchbruch in die russischen Verteidigungslinien. Russland widersprach, das Washingtoner Institute for the Study of War äußerte sich zurückhaltend. Der Militär- und Osteuropaexperte Gustav Gressel betonte, angesichts des bisherigen Verlaufs der Offensive sei entscheidend, ob „die Ukraine genügend Reserven aufbringen kann, um einen solchen Durchbruch auszunutzen“. Auf jeden Fall werde der Krieg bis 2025 dauern, sagt Gressel. Bleibt hinzuzufügen: Es sei denn, es kommt doch zu einem Verhandlungswillen.
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