Ein Beobachter des Ukraine-Krieges im Westen, der auf die Darstellungen im eigenen Land schaut, hat Schwierigkeiten, die Verläufe des Krieges nachzuvollziehen. Das scheint Absicht, verliert jedoch an Glaubwürdigkeit. Ralph Bosshard, früherer Oberstleutnant im Generalstab der Schweizerischen Armee, der lange Zeit auch für die OSZE gearbeitet hatte, resümierte nach einem Jahr des Krieges, die Ukraine sei derzeit bemüht, eine dritte ukrainische Armee aufzustellen. Die erste war die Berufsarmee, die mit Hilfe des Westens seit 2014 aufgebaut wurde. Sie wurde im Sommer 2022 zerschlagen. Die zweite, mobilisierte Armee hatte im Herbst eine Gegenoffensive geführt und wurde in den seinerzeitigen Kämpfen ebenfalls zerschlagen. Deshalb wolle die ukrainische Armeeführung nunmehr eine neue Armee aufstellen. Dafür brauche sie die vielen Panzer und anderen Waffen, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij und andere vom Westen ständig fordern.
Jacques Baud, Oberst der Schweizer Armee, hatte für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst, die UNO – darunter in unterschiedlichen Friedensmissionen – sowie für die NATO gearbeitet. Er kam im Februar 2023 zu ähnlichen Befunden. Russland gehe es nicht in erster Linie um Territorium, sondern um die Vernichtung des militärisch relevanten Potenzials der Ukraine. Die Hauptkapazitäten der ukrainischen Streitkräfte wurden 2022 zerstört. Nunmehr sei die ukrainische Armee „eine bunte Ansammlung von Material unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Logistikketten. Das Problem der Ukrainer ist nicht wirklich der Mangel an Waffen, sondern die Fähigkeit, diese in eine optimale und effiziente Führungsstruktur zu integrieren“. Die Ukraine habe bereits seit 1990 einen Großteil ihrer Bevölkerung verloren. Kriegsverluste und Flucht würden die Zukunftsperspektiven des Landes weiter verbauen. Es sei dies der Hintergrund, vor dem General Mark Milley, Vorsitzender der Vereinten Stabschefs der US-Streitkräfte, sowie US-Außenminister Anthony Blinken im Januar 2023 betonten, dass „eine Rückeroberung der von Russland eingenommenen Gebiete unrealistisch ist“.
Der frühere militärische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, General Erich Vad, schätzte nach einem Jahr Krieg ebenfalls ein, der „Abnutzungskrieg“ führe „dazu, dass die Ukrainer etwas verteidigen, was es am Ende vielleicht gar nicht mehr gibt“. Es gäbe bereits über 200.000 Gefallene auf beiden Seiten und 50.000 Ziviltote. In der Ukraine fand im Februar 2023 „die achte Mobilisierungswelle“ statt, „auch die 60-Jährigen werden zu den Waffen gerufen“. Russland verfügt über „ein vergleichsweise viel größeres Mobilisierungspotential, das Putin noch gar nicht ausgespielt hat“. Die Situation „ist militärisch nicht zu drehen“. Das wäre sie nur, „wenn die NATO als Ganzes Russland den Krieg erklärt. Aber das will derzeit niemand.“ Schon wegen des großen Risikos eines Nuklearkrieges.
Ende März 2023 hat Jacques Baud eine neue Lageeinschätzung gegeben. Er betont, dass die Ukraine nie Gelände erobert habe, „aus dem die russische Armee nicht schon früher absichtlich abgezogen war“. „Seit Beginn des Krieges hat die ukrainische Armee kein Territorium durch Kampf erobert.“ Im Sommer 2022 hatte Russland sein Ziel der „Entmilitarisierung“ der Ukraine erreicht. Deren Armee hatte „fast ihre gesamte Einsatzfähigkeit verloren und begann, von westlicher Militärhilfe abhängig zu werden. Selenskij musste die Territorialverteidigung mobilisieren und bat den Westen um Waffen.“ Was die Zahl der Verluste anbetrifft, würden die beide Seiten geheim halten. Im Westen würden stets die Zahlen der ukrainischen Propaganda angegeben. Deshalb seien die Zahlen für die Russen so hoch, für die Ukraine so niedrig; wer die anzweifle gelte als „Verschwörungstheoretiker“. Die westlichen Journalisten würden die Informationen ohne Überprüfung weitergeben, lediglich voneinander abschreiben „und wie Papageien arbeiten“.
Tatsächlich verliere die Ukraine bei der Schlacht um Bachmut täglich ein Bataillon, an Toten und Verwundeten, das sind an jedem Tag 200 bis 300 Mann. Seit Kriegsbeginn gibt es eine Webseite der britischen BBC, die gemeinsam mit der russischen Oppositionsplattform Mediazona betrieben wird. Deren Aussagen beruhen auf Todesanzeigen in russischen Zeitungen. Danach ist die Zahl der Toten auf russischer Seite etwa zehnmal niedriger, als von der ukrainischen Propaganda angegeben, und deutlich niedriger, als es die ukrainischen Verluste sind. Die Russen hätten mehr Waffen, als der Westen der Ukraine offerieren kann. Die russische Armee habe eine Artillerieüberlegenheit von 10 zu 1. Die NATO „war überhaupt nicht darauf vorbereitet, der Ukraine etwas zu liefern, weil sie in der Vergangenheit ganz andere Kriege geführt hat“.
Da der Krieg auf drei Ebenen geführt wird, des Schießkrieges im Feld, des Wirtschaftskrieges zwischen dem „kollektiven Westen“ und Russland und des Propagandakrieges, liegt es nahe anzunehmen, die zunehmende Lautstärke aus Kiew korreliert mit den Schwierigkeiten an den Fronten. Ende März 2023 hieß es, Selenskij habe nach seiner Teilnahme an einem „virtuellen Weltgipfel für Demokratie“, den die USA zusammen mit anderen Staaten ausgerichtet hatten, bekundet, „die Demokratie“ brauche unbedingt und schnellstmöglich einen Sieg. „Und wir alle zusammen – Ukrainer, alle Europäer, unsere amerikanischen Verbündeten, unsere Freunde auf allen Kontinenten […] – werden alles tun, um diesen Sieg näherzubringen.“ Russland wird hier aus Europa ausgesondert und der Kampf der Ukraine zu einem Krieg der Welten hochstilisiert: „Den Sieg der Ukraine, den Sieg der Freiheit, den Sieg für die regelbasierte Ordnung.“ Dem schloss sich eine Lobpreisung des US-Präsidenten an: Biden habe eine „führende Rolle in der Konsolidierung der demokratischen Welt“. Ein Schelm, dem der alte Satz einfällt: Wer bezahlt, bestellt die Musik.
Aufschlussreich zugleich eine Äußerung Selenskijs zum Kampf um die Stadt Bachmut. In einem Interview für die Nachrichtenagentur AP antwortete er auf den Einwand, westliche Militäranalysten bezweifelten die strategische Bedeutung der Stadt, im Fall eines russischen Sieges im Kampf um Bachmut könnte der Rückhalt in der ukrainischen Bevölkerung für den Krieg nachlassen. „Unsere Gesellschaft könnte müde werden und mich zu einem Kompromiss mit Russland drängen.“ Zugleich könnte dann die westliche Unterstützung nachlassen. Das wiederum bestätigt eine Einschätzung von Jacques Baud: „In der Ukraine führt im Grunde genommen Selenskij den Krieg. In Russland führen hohe Militärs wie Gerassimow und Surowikin den Krieg. […] Es sind militärische Leute, die den Krieg führen. Putin sagt kein Wort zu militärischen Operationen. Er hat die politischen Richtlinien gegeben. Das ist normalerweise so, und das Militär muss diese in militärische Operationen umsetzen. In der Ukraine ist das eine rein politische Führung. Das Militär führt das aus, was Selenskij sagt, und deshalb ist die Propaganda so wichtig für die Ukraine. Das Ziel ist nicht einmal, im Feld zu siegen. Das wichtige Element für die Ukraine ist, dass Russland verliert.“
Am 1. April übernahm Russland für einen Monat den Vorsitz des UNO-Sicherheitsrates – das rotiert zwischen dessen 15 Mitgliedern. Die Ukraine hatte bereits im Vorfeld gefordert, Russlands Vorsitz zu verhindern. Selenskij erklärte: „Es ist kaum vorstellbar, was den vollständigen Bankrott solcher Institutionen besser demonstriert.“ Sein Präsidialamtsleiter Andrij Jermak fügte hinzu: „Es ist nicht nur eine Schande. Es ist ein weiterer symbolischer Schlag gegen das auf Regeln basierende System der internationalen Beziehungen.“ Nimmt man dies ernst, so ist die vom Westen immer wieder betonte „regelbasierte Ordnung“ nicht die, die auf der UNO-Charta und auf den UNO-Institutionen beruht. So weit wollten die USA denn doch nicht gehen. Die Sprecherin des Weißen Hauses kritisierte Russland als ein Land, „das schamlos die UNO-Charta verletzt und seinen Nachbarn überfällt“, räumte jedoch ein, Russland sei nun mal „leider“ Ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates und es gebe „keinen praktikablen internationalen Rechtsweg“ dies zu ändern.
Anfang April wurde in Deutschland ein Friedensappell namhafter Sozialdemokraten und Gewerkschafter sowie von Wissenschaftlern und Künstlern veröffentlicht, initiiert von Peter Brandt, einem Sohn von Willy Brandt. „Statt der Dominanz des Militärs brauchen wir die Sprache der Diplomatie.“ Adressat ist der sozialdemokratische Bundeskanzler: „Wir ermutigen den Bundeskanzler, zusammen mit Frankreich insbesondere Brasilien, China, Indien und Indonesien für eine Vermittlung zu gewinnen, um schnell einen Waffenstillstand zu erreichen.“ Andrij Melnyk, der sich als ukrainischer Botschafter in Deutschland hinlänglich undiplomatisch verunmöglicht hatte und nun als Vizeaußenminister in Kiew agiert, schrieb auf Twitter: „Schert euch zum Teufel mit eurer senilen Idee, einen ‚schnellen Waffenstillstand‘ zu erreichen und ‚den Frieden nur mit Russland zu schaffen‘!“ Sein Nachfolger in Berlin, Oleksii Makeiev, bezeichnete den Appell als „puren Zynismus“. Adressat ist nicht die Ukraine, sondern der deutsche Kanzler, eine wiederholte „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ Deutschlands.
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