Der Börsianer, Ökonom und einflussreiche Wirtschaftspolitiker David Ricardo (1772-1823) gehört zu jenem Kreis bedeutender Persönlichkeiten, deren Namen man zwar kennt, deren Schriften aber kaum jemand gelesen hat oder heutzutage noch liest. Gleichwohl haben seine ökonomischen Ansichten das Denken und Handeln ganzer Generationen von Volks- und Betriebswirten bestimmt.
Wenn die Sentenz von John Maynard Keynes, wonach „Praktiker, die sich ganz frei von intellektuellen Einflüssen glauben, gewöhnlich die Sklaven irgendeines verblichenen Ökonomen sind“, für einen Theoretiker ganz besonders gilt, so ist dieser zweifellos David Ricardo. Sein Hauptwerk „On the Principles of Political Economy and Taxation“ erschien 1817 in London und wurde sofort ein großer Erfolg, obwohl, einem zeitgenössischen Urteil zufolge, damals kaum 25 Personen imstande waren, das Werk zu verstehen. Seine Lektüre gilt bis heute für Studenten und Lehrende wegen der strikten Logik und der abstrakten Sprache als eine Herausforderung. Selbst ein Ökonom unserer Tage, Paul A. Samuelson, meinte deshalb, es sei „entschieden zu schwer für die unteren Semester“. Alle stimmen aber darin überein, dass das Buch einen Höhepunkt des ökonomischen Denkens verkörpert und als Hauptwerk der klassischen Politischen Ökonomie anzusehen ist. Karl Marx hielt große Stücke darauf und pries den Realitätssinn und die Wahrheitsliebe des Autors. Alfred Marshall erblickte in dieser Arbeit ein „Zeichen höchster Genialität“. Bis heute gibt es in der ökonomischen Theorie eine Richtung, die „Neuricardianische Schule“, die sich in der Tradition Ricardos sieht. Und nicht wenige ökonomische Theoreme gehen auf ihn zurück. So zum Beispiel das „Theorem der komparativen Kostenvorteile“, das besagt, dass der internationale Handel letztlich für alle beteiligten Länder von Vorteil ist. Auch dann, wenn ein Land bestimmte Güter zu geringeren Opportunitätskosten produziert als andere, sich jedes Land aber auf die Produktion derjenigen Güter konzentriert, die es im Vergleich zum Ausland relativ kostengünstiger herstellen kann, für die es also einen komparativen Vorteil besitzt. Diese Aussage ist angesichts fortschreitender De-Globalisierung von aktueller Bedeutung, denn sie bietet die Erklärung für den Wohlfahrtsverlust, den die Staaten der Europäischen Union durch die Kappung ihrer Handelsbeziehungen zu Russland und China erfahren.
Was Ricardo von manch anderem Ökonomen abhebt, ist sein Sinn für das Praktische. Dies erklärt sich aus seiner Herkunft und seiner beruflichen Entwicklung. Ricardo entstammte einer reichen, aus Holland nach England eingewanderten jüdischen Börsenmaklerfamilie. Er trat bereits im Alter von 14 Jahren in das väterliche Geschäft ein und qualifizierte sich zum Börsen-Jobber. Schon mit 21 Jahren spekulierte er an der Londoner Börse und erwies sich dabei als ein sehr talentierter Wertpapierhändler. Mit 40 Jahren lebte er davon, Darlehen von Privatpersonen an die englische Regierung zu vermitteln. Seine Spekulationen erwiesen sich für ihn insbesondere während der Napoleonischen Kriege als sehr einträglich. 1815 riskierte Riccardo fast sein gesamtes, schon damals beachtliches Vermögen für eine Mega-Spekulation um den Ausgang der Schlacht von Waterloo. Er war dabei erfolgreich und wurde so zu einem der reichsten Männer Großbritanniens. Sein privates Vermögen überstieg 700.000 Pfund, was nach heutigem Wert mehreren Millionen Euro entspricht. Er war auf dem Höhepunkt seiner Karriere also nicht nur Spekulant, sondern auch Multimillionär. Als solcher zog er sich schließlich vom Börsengeschäft zurück und widmete sich ganz der theoretischen Ökonomie. Sein Grundsatz blieb aber auch jetzt: „Nichts ist praktischer als eine gute Theorie!“ (Heinz D. Kurz)
1819 trat Ricardo ins englische Parlament ein, wo er vor allem in Debatten zur Steuer-, Finanz- und Agrarpolitik glänzte. Beispielsweise setzte er sich vehement dafür ein, die in den Napoleonischen Kriegen angehäuften Staatsschulden durch eine einmalige Vermögensabgabe zu tilgen. Seine diesbezügliche Position und weitsichtige Argumentation war für Großbritannien von nachhaltiger Wirkung und spielte noch bei der Entscheidung über die Finanzierung der Kriegskosten von 1914 bis 1918 eine Rolle, indem Steuererhöhungen gegenüber einer Anhäufung von Staatsschulden den Vorrang erhielten. 1823 legte Ricardo einen Plan zur Errichtung einer im Auftrag der Regierung tätigen, aber institutionell unabhängigen Nationalbank vor. Damit aber hatte er keinen Erfolg.
Ricardo war ein bürgerlicher Ökonom. Dies gilt auch für seine politische Klassenposition. Zwischen seinem Werk und den Schriften seines Vorgängers und Kollegen Adam Smith klafft eine bedeutsame Differenz: Während Smith noch versucht hatte, das Bild einer harmonischen Wirtschaftsgesellschaft zu zeichnen, worin jeder, indem er auf seinen Vorteil bedacht ist, letztlich zum Nutzen aller beiträgt, sah Ricardo die Gegensätze zwischen den Klassen deutlich und begriff den Klassenkampf folglich als Kampf um die Verteilung des Volkseinkommens. Indem er die vielfältigen Widersprüche und Konflikte in der bürgerlichen Gesellschaft auf ihre eigentlichen, ihre ökonomischen Ursachen zurückführte, trug er wesentlich zur wissenschaftlichen Analyse und Erhellung der kapitalistischen Produktionsweise bei. Mit Ricardo fand die klassische Politische Ökonomie ihren Abschluss.
Am 11. September dieses Jahres jährt sich der Todestag David Ricardos zum 200. Mal. Dies sollte ein Grund sein, sich des großen Ökonomen zu erinnern und seiner zu gedenken. Im Blättchen geschieht dies gleich zweimal, in der Ausgabe Nr. 18 und in diesem Beitrag.
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