Am 15. Oktober wird Polens Wahlvolk zur Stimmabgabe gerufen, zu entscheiden hat es über die Zusammensetzung der beiden Parlamentskammern – Sejm und Senat. Manches vor der Wahl erinnert an die Situation von vor vier Jahren, doch längst nicht alles. Das nationalkonservative Regierungslager wird erneut angeführt von Jarosław Kaczyński, der selbst in Kielce nebst zugehöriger Wojewodschaft antritt – einer Hochburg der Nationalkonservativen –, also nicht im heimischen, wiewohl hoffnungslos liberalen Warschau. Die meisten Beobachter sind sich darin einig, dass er wohl seine letzte große politische Schlacht ausficht. Sollten die Nationalkonservativen die absolute Mehrheit der Abgeordnetensitze im Sejm verteidigen, ginge er ohnehin – und ganz gleich, was von ihm sonst zu halten ist – als einer der großen Politiker Polens nach 1989/90 in die Geschichtsbücher ein. Er stünde zweifelsfrei in einer Reihe mit Aleksander Kwaśniewski und Donald Tusk. Doch zeigt sich Kaczyński diesmal – ganz anders als 2019 – viel abtastender und vorsichtiger, die Nervosität ist unverkennbar. Gleichwohl gibt sich der Parteistratege, wie es seine Wähler gewohnt sind, verwegen und angriffslustig, er weiß um den hohen Einsatz – alles oder nichts.
Vor vier Jahren bekamen die Nationalkonservativen über 43 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Sejm-Sitze, ein Wert, der in diesem Jahr wohl nicht mehr zu erreichen ist. Derzeit werden in Umfragen meistens Werte um 35 Prozent prognostiziert, viel dürfte sich in den verbleibenden Wochen daran auch nicht mehr ändern. Ein kleiner Trost für den Parteivorsitzenden ist, dass die Siegespalme für die stärkste Gruppierung wohl wieder den Nationalkonservativen zufallen wird. Der Abstand zu der von Tusk angeführten, im Kern liberal ausgerichteten Bürgerplattform, die um die 30 Prozent notiert wird, ist doch noch recht deutlich. Die Stimmen für das Tusk-Lager kommen vor allem aus den prosperierenden Großstädten, die Nationalkonservativen halten weiterhin die kleinstädtische Provinz und gottesfürchtiges Landvolk in Schach.
Die Sorgenfalten auf der Kaczyński-Seite indes werden größer, sobald der gesamte Oppositionsbogen in den Blick gerät. Wie 2019 hat sich das demokratische Oppositionsspektrum – das von gemäßigt konservativ über das liberale Lager bis hin zu entschieden linksgerichteten Positionen reicht – zu einem konzentrierten Vorgehen in drei Teilen aufgemacht. Dem festen liberalen Sockel in der Mitte stehen ein konservativ-liberales Parteienbündnis namens „Dritter Weg“ und Lewica (Linke) zur Seite. Einig ist man sich in der entschiedenen Gegnerschaft zu den Nationalkonservativen, ansonsten zeigt man sich überzeugt, im getrennten Wahlauftritt die jeweils angepeilten Wählerpotentiale besser ausschöpfen zu können. Das Scheitern des Versuchs in Ungarn, Premier Viktor Orbán bei den Parlamentswahlen 2022 mit einer gemeinsamen Liste der gesamten Opposition zu schlagen, dürfte hier eine wichtige Warnung gewesen sein.
Der „Dritte Weg“ muss als Parteienbündnis indes die höhere Acht-Prozent-Hürde (statt der üblichen fünf Prozent) überspringen, um Parlamentssitze zu erobern. Derzeit werden Werte um zehn Prozent notiert, doch gilt die Liste bei vielen Beobachtern gewissermaßen als Achillesferse der demokratischen Opposition. Scheitert sie, ist die politische Katastrophe wohl perfekt. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die eine Hälfte im Bündnis von den Agrariern der PSL gebildet wird, die ihre Wähler eben dort finden muss, wo die Nationalkonservativen seit 2015 eine uneinnehmbare Macht darstellen – unter der Landbevölkerung.
Für Lewica werden stabile Werte um zehn Prozent notiert, so dass ein Einzug in das Parlament sicher scheint. Rückgrat der aus verschiedenen Teilen zusammengesetzten Liste ist die Parlamentsfraktion, die seit 2019 erfolgreich gezeigt hat, wie unterschiedliche Positionen, ja sogar verschiedene Parteien mit einem übergeordneten politischen Ziel zusammengehalten werden können. Der schleichende Zerfallsprozess einer Parlamentsfraktion, der die gesamte dazugehörige Partei in den Abgrund zieht, wie es in Deutschland dem staunenden Publikum gerade vorgeführt wird, ist hier im Augenblick nicht denkbar. Darauf sollte später einmal zurückgekommen werden, auch deshalb, weil es ein treffliches Gegenbeispiel ist zu dem auf deutscher Seite angerichteten Chaos. Freilich sei angemerkt, dass Lewica im Kern linksdemokratisch ist, dass grün- und linksalternative Positionen fester eingebunden sind, dass es keinen Zweifel gibt an der NATO-Mitgliedschaft des Landes und an der festen Unterstützung der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen den russischen Angriff.
Geht alles gut, darf die demokratische Opposition zusammengerechnet sogar mit bis zu 50 Prozent der abgegebenen Stimmen rechnen. Doch grau ist alle Theorie, der berühmte Pudding wird erst am 15. Oktober gegessen. Immerhin haben die drei Listen sich für die Wahlen zur höheren Kammer, dem Senat, auf ein gemeinsames und geschlossenes Vorgehen geeinigt. Der 100-köpfige Senat setzt sich aus den jeweiligen Siegern der Wahlkreise zusammen, wobei nur ein Wahlgang entscheidet. So wird es also überall zum spannenden Stechen zwischen den Kandidaten der Nationalkonservativen und denen der demokratischen Opposition kommen. 2019 gewann die Opposition knapp, sie beherrscht den Senat seitdem mit hauchdünner Mehrheit.
Ein Fragezeichen machen viele Beobachter hinter der Konfederacja (Konföderation), einer offen nationalistisch und rechtsgerichteten Liste. Die gleicht tatsächlich einem zusammengewürfelten Haufen, aber der herausfordernde Ton wird vorgegeben durch männliche Politiker jüngeren Geburtsdatums, die zusätzlichen Stimmengewinn erwarten durch die betonte Abgrenzung gegen die in die Jahre gekommenen Veteranen Kaczyński und Tusk. Außerdem werden heilige Kühe geschlachtet, so warnt man beispielsweise regelmäßig vor einer „Ukrainisierung“ Polens. In Umfragen werden für die Rechtausleger bis zu 15 Prozent notiert, was zusammengerechnet mit den Werten für die Nationalkonservativen wiederum 50 Prozent der Stimmen ergeben würde. Zwar glaubt jetzt kaum jemand an ein späteres Zusammengehen der Nationalkonservativen mit der Konfederacja, doch auch in Polen frisst der Teufel in der Not die sprichwörtlichen Fliegen.
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