Beim Verfasser des „West-östlichen Diwans“ finden sich im „Faust“ die Zeilen: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, / erwirb es, um es zu besitzen. / Was man nicht nützt, ist eine schwere Last. / Nur was der Augenblick erschafft, / das kann er nützen.“ Zeilen, die mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Zumindest nicht bei der Lektüre der im Februar dieses Jahres bei Urbanophil in Buchform veröffentlichten Dissertation der 1983 in Lübeck geborenen, in Hamburg aufgewachsenen und seit langem in Berlin lebenden Denkmalwissenschaftlerin Gülșah Stapel.
Der Obertitel ihres 336 Seiten umfassenden und 121 Abbildungen enthaltenden Bandes „Recht auf Erbe in der Migrationsgesellschaft“ gibt mir mehrfach zu denken. Denn der Terminus „Migrationsgesellschaft“ für eine sich grundsätzlich und grundgesetzlich der menschlichen Zuwanderung offenhaltenden Gesellschaft, von und mit der wir seit langem leben, beinhaltet einen Anspruch, der heute häufiger denn je militant bestritten und attackiert wird. Umso bedeutsamer und für den öffentlichen Diskurs hilfreicher ist das Erscheinen dieses Bandes, der ihn im Untertitel als eine „Studie an Erinnerungsorten türkeistämmiger Berliner*innen“ ausweist.
Er konfrontiert mit den Ergebnissen und Details einer mehr als anderthalb Jahrzehnte umfassenden Recherche, in der sich die Autorin nicht als Interviewerin, sondern als Gesprächskomplizin einbrachte. Zugunsten eines Dialogs auf Augenhöhe. Und dem ausgrenzenden Begriff des Fremden stellt sie den einladenden Begriff des Anderen gegenüber. Für nahezu alle von ihr verwendeten Begriffe liefert sie die notwendigen Präzisierungen. Mit Bedacht unterscheidet sie zwischen türkisch und türkeistämmig: „Türkeistämmig bezeichnet Menschen, deren Familien aus der Türkei stammen und trägt dem Umstand Rechnung, dass sich Menschen aus der Türkei entlang sehr unterschiedlicher Zugehörigkeitsmerkmale identifizieren und nicht unbedingt als türkisch gelten beziehungsweise gelten wollen.“
In Erinnerung einer 2007 stattgefundenen Begegnung mit dem türkischen Inhaber einer Kreuzberger Fernsehreparaturwerkstatt kommt die Autorin in ihrem reich untergliederten Einleitungs-Teil auf ihr frühes Selbstverständnis zu sprechen: „Als die Integration Ende der 1990er Jahre endgültig für gescheitert erklärt wurde, war ich 14 Jahre alt und für mein Empfinden gut integriert, wenn nicht sogar assimiliert. Ich hielt mich im Gegensatz zu meinen Eltern für einen selbstverständlichen Teil der Gesellschaft. Ich sah mich selbst als einen Teil der deutschen Staatsbürger*innen, auch wenn mir anderes signalisiert wurde und ich zwischen der Migrationsgeschichte meiner Eltern und meiner Lebensrealität keine Bezüge herstellen konnte. Die behauptete ausgebliebene Integration (vor allem der Türk*innen) war auch noch bis zu Beginn meiner Studienzeit ein zentraler Diskurs, zu dem ich mich verhielt, indem ich das eindeutige Ziel verfolgte, dem mir zugewiesenen Platz in der Gesellschaft zu entkommen, denn er gefiel mir nicht. Aus den Gastarbeiter*innen der 1960er und 1970er Jahre wurden in den 1980er und 1990er Jahren zunächst Ausländer*innen, dann in den 2000er Jahren Immigrant*innen. In jedem Fall und zu jeder Zeit galten sie als Herausforderung für die deutsche Gesellschaft, nicht aber als deren selbstverständlicher Bestandteil. Ich wollte eindeutig nicht als Problem der Gesellschaft gelten und engagierte mich bereits als Schülerin für gesellschaftspolitische Themen. In diesem persönlichen Kontext wurzelt mit Sicherheit auch eine Motivation für meine Forschung und dieses Buch.“
Ein Buch, das an vielen Orten und Plätzen Berlins diverse Fundstellen von Denkzeichen und Denkmalen ermittelt und auflistet: als das selbstverständliche und stadtprägende Erbe einer deutschen Erinnerungskultur. Im Kontrast dazu stehen die zahlreichen Leerstellen eines ignorierten, bewusst vorenthaltenen, absichtsvoll verschwiegenen und insofern nicht bezeichneten Erbguts der türkischen und türkeistämmigen Berliner Einwohnerschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Im Kapitel „Recht auf Erbe – Erinnerungsraum Hardenbergstraße“ folgt die Autorin, innehaltend an einem in Deutsch und Türkisch beschrifteten Gedenkstein in der Hardenbergstraße 20, der Erzählung eines türkischen Migranten, der ihr zuvor erzählt hatte, dass sich um 1917 ein türkischer Ministerpräsident im Exil in Deutschland aufgehalten hätte und dann hier von einem Armenier erschossen worden sei. Die Entdeckung des Steins war für den Gesprächspartner, der niemals eine Denkmalsetzung für ein „türkisches“ Thema fordern würde, eine freudige Überraschung, allein dadurch, dass diese Geschichte in der Stadt verankert worden war.
Zu den wenigen Denkmalsetzungen im Zusammenhang deutsch-türkischen Zusammenlebens in Berlins jüngerer Geschichte gehört das von Akbar Bekhalam entworfene Denkmal für den 23-jährigen Cemal Kemal Altun, der sich 1983 aus dem im sechsten Stock gelegenen Saal des Oberverwaltungsgerichtes zu Tode stürzte. Bezeichnender Weise wird dieser Stein vom Bezirk nicht unter der Kategorie Gedenkstätte/Mahnmale dokumentiert, sondern bei den Gedenktafeln verortet.
Mit dem Herausgreifen dieser Beispiele ist dem immensen Faktenreichtum und der akribischen Spurensuche dieses Buches bei weitem nicht beizukommen. Es ist – wie die Autorin in ihrer Danksagung formuliert – das Ergebnis „einer langjährigen empirischen aber auch philosophischen Forschungsreise“. Dass es seinen Weg auch zu Leserinnen und Lesern findet, die mit der wissenschaftlich betriebenen Denkmalpflege und ihrer Terminologie unvertraut sind, bleibt dringend zu wünschen.
Gülșah Stapel: Recht auf Erbe in der Migrationsgesellschaft. Eine Studie an Erinnerungsorten türkeistämmiger Berliner*innen, Urbanophil Verlag, Berlin 2023, 336 Seiten, 36,00 Euro.
Schlagwörter: Berlin, Denkmalpflege, Gülșah Stapel, Jürgen Rennert, Migration, Türken