Im Jahr 1823 erklärte der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika James Monroe: „Jegliche Einmischung eines europäischen Staates mit dem Ziel, sich in einen unabhängigen Staat einzumischen oder ihn zu dominieren, kann nicht anders gesehen werden als eine feindliche Aktion gegen die USA“.
Über zwei Jahrhunderte wurde diese von Monroe deklarierte Doktrin zur Grundlage der Außenpolitik der USA gegenüber Lateinamerika. Sie begründete deren Vorrangstellung auf dem amerikanischen Kontinent: Kontrolle des Territoriums durch den Norden und Vertreibung aller Konkurrenten. Ursprünglich gedacht als defensives Instrument, gegen jegliche Ambitionen westeuropäischer Konkurrenten, sich in Lateinamerika festzusetzen.
Sie schloss bereits das Denken der jungen USA ein, dass „Amerika den Amerikanern gehört“. Damit nahmen die USA den autochthonen Völkern des Südens schon frühzeitig ihre Souveränität. Es wurde nur die europäische Herrschaft durch die des Nordens ersetzt. Monroe sprach den USA dieses „legitime“ Recht zu, da sie als erste in der Region ihre Unabhängigkeit erhielt und damit die „Verantwortung“ für die Entwicklung der Region inne habe.
Das US-Imperium vermischte die Formen der kolonialen Herrschaft mit neueren Methoden semikolonialen Charakters. Lateinamerika wurde zum Basismarkt für die schnell und effektiv sich entwickelnde Wirtschaft der USA. Schnell erhöhten sich die Investitionen US-amerikanischer Unternehmen. Mit der faktischen Okkupation von Territorien, der Übernahme der Zollhoheit (Santo Domingo), der Beherrschung des Erdöls (Mexiko), der Bergwerke (Peru, Bolivien, Chile), der Kontrolle der Gefrierhäuser (Argentinien) oder der Finanzkontrolle (Brasilien) übernahmen die USA die Kontrolle über Lateinamerika.
Die USA haben seit dem 19. Jahrhundert dutzende Male in lateinamerikanischen Staaten politisch und militärisch interveniert, sie okkupiert oder „regime-changes“ vollzogen.
Mit der Gründung des Militärpaktes, des „Interamerikanischen Vertrages über gegenseitigen Beistand“ (TIAR, 1947), und der „Organisation der Staaten Amerikas“ (OAS, 1948) wurde Lateinamerika zur Bastion des Kalten Krieges, um der „roten Gefahr“ in Lateinamerika zu begegnen. Die Prinzipien der Monroe-Doktrin, vor 200 Jahren entstanden, bestimmen die Handlungen aller US-Administrationen bis heute. Gleichzeitig wurde sie immer an die sich verändernden Verhältnisse angepasst. Der Politik des „Big Stick“ („Großer Knüppel“) Trumans und Eisenhowers folgten Perioden der Kooperation (Roosevelt, Kennedy), der realen Vorherrschaft (Reagan, Bush, Trump) oder der Entspannung (Carter, Obama).
Das erste Mal in der Geschichte wird im 21. Jahrhundert das Prinzip der Monroe-Doktrin durch einen Rivalen ignoriert: Die amerikanische Vorherrschaft wird angesichts der finanziellen, kommerziellen und Investitionstätigkeit Chinas in Lateinamerika in Frage gestellt. China setzt wie ehemals die USA auf Freihandel und schließt Verträge ab, die effektiver und erfolgreicher sind als die US-amerikanischen.
China tritt mit attraktiven Konditionen auf, die auf wachsendes Interesse lokaler Partner stoßen, wobei China alles tut, um Konflikte mit den USA zu vermeiden. Ein Beispiel dafür ist Panama, wo die Position der USA durch privilegierte finanzielle und kommerzielle Beziehungen geschwächt wurde. Ohne einen Soldaten zu schicken, wird die historische Kontrolle Washingtons geschwächt. Zu früheren Zeiten lösten die USA dergleichen Konflikte mit militärischen Mitteln. Heute ist die Anwendung solcher Methoden den USA weitgehend verloren gegangen. Selbst die herrschenden Eliten lateinamerikanischer Länder haben ihr Verhalten geändert: Kein Land nahm bisher Abstand von den mit China abgeschlossenen Verträgen oder reduzierte die Handelsbeziehungen oder verzichtete auf chinesische Investitionen. Mit 21 Ländern gibt es Abschlüsse oder Vereinbarungen zum Beitritt in das Projekt „Neue Seidenstraße“. Besonders Brasilien betrachtet China als geeigneten Partner, da dessen Rolle in der CELAC (Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten) und den BRICS wesentlich für die Entwicklung einer strategischen Partnerschaft ist.
Chinas Präsenz in Lateinamerika – im „patio trasero“ – zwingt die US-Administrationen, Wege zu suchen, um ihre alte Hegemonie wieder herzustellen. Das aber ist bisher keiner US-Administration gelungen.
Lateinamerika durchlebt nach einer Etappe rechter Restauration einen Zyklus der Existenz progressiver Mitte-Links-Regierungen. Dabei handelt es sich keineswegs um einen einheitlichen Block. Im Falle Kolumbiens und Brasiliens setzen die Regierungen auf soziale Programme und Festigung der nationalen Unabhängigkeit.
Mexiko nahm nicht an vom US-Präsidenten Biden einberufenen 9. Tagung der OAS im Juni 2022 teil, da Kuba, Nikaragua und Venezuela nicht eingeladen wurden. Das betrachtete Präsident Obrador als Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Länder und als Nichtbeachtung des Prinzips der juristischen Gleichheit.
Argentiniens Präsident Alberto Fernández, der am OAS-Treffen teilnahm, verwies in seiner Rede auf die hohe Verschuldung der Region (77 Prozent des Bruttoprodukts Lateinamerikas) und erklärte, dass die westliche Welt ungerechte Finanzregeln geschaffen hat, nach denen sich die Einkommen auf Wenige konzentrieren und Millionen Menschen in Armut verharren.
Fernández prangerte die aggressive US-Politik und die OAS an, die den Staatsstreich gegen den bolivianischen Präsidenten Evo Morales inszenierte. Das war eine klare Ansage des Südens gegen die „Werte“ der westlichen Welt, die auf der Basis der „Logik der transnationalen Konzerne“ beruht, wie der argentinische Präsident formulierte. Der Präsident Mexikos hatte schon auf der Tagung der CELAC im September 2021 vorgeschlagen, die OAS aufzulösen und durch einen Block ähnlich der CELAC zu ersetzen.
Signifikant war auch die Rede des Präsidenten Chiles, Gabriel Boric Font, auf der OAS-Tagung. Er kritisierte den Ausschluss Kubas, Venezuelas und Nikaraguas, forderte aber auch die Freilassung politischer Gefangener in Nikaragua und die Aufhebung der Blockade Kubas.
Mit der Entscheidung Bidens, Kuba, Venezuela und Nikaragua vom OAS-Treffen in Los Angeles auszuschließen, wiederholte er 60 Jahre nach Ausschluss Kubas von der Konferenz in Punta del Este 1962 die Logik der Monroe-Doktrin.
Führende Vertreter Lateinamerikas sprechen sich für friedliche Beziehungen, diplomatische Verhandlungen und Interessenausgleich aus. Sie treten ein für Multipolarität und Schaffung einer neuen Weltwirtschaftsordnung. Ausdruck dieser Haltung ist vor allem auch die Positionierung zum Ukraine-Krieg. Mit der Verurteilung der Aggression Russlands als völkerrechtswidrig verbindet die Mehrheit der Länder Lateinamerikas eine Position der Neutralität. Vom brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva stammt die Idee einer Friedensinitiative zur Bildung eines Klubs von Ländern (China, Indien, Indonesien u.a.), der eine Vermittlerrolle spielen könnte. Brasilien will keine Beteiligung am Krieg, auch nicht indirekt, deshalb auch die Ablehnung von Waffenverkäufen an die Ukraine. Neben Chile und Argentinien war es auch der kolumbianische Präsident Petro, der den USA die Lieferung von Hubschraubern zur Weitergabe an die Ukraine absagte. Der offensichtliche Dissens resultiert aus der unterschiedlichen Beurteilung der gegenwärtigen internationalen Lage, in der Länder Lateinamerikas nicht bereit sind, dem Kurs der westlichen Länder zu folgen.
Länder Lateinamerikas vertreten zunehmend aktiv nationale Interessen und streben nach Formen ihrer Integration. Die Vorherrschaft der USA in Lateinamerika bröckelt. Wie lateinamerikanische Medien feststellen, haben die dominierenden Eliten in Washington die Veränderungen, die in der Region vor sich gingen, nicht verstanden.
Sowohl der Chef des US-Generalstabs Mark Milley wie auch die eben ernannte neue Chefin des Militärkommandos Süd Generalin Laura Richardson erhoben die Forderung nach Neuformulierung der Monroe-Doktrin, um das Vordringen Chinas in Lateinamerika aufzuhalten. Mark Milley äußerte in aller Deutlichkeit, dass „diese westliche Hemisphäre uns gehört, sonst niemanden. Wir werden sie gegen jegliche Bedrohungen verteidigen.“ Diese Positionsnahmen erfolgten auch unmittelbar nach der Erklärung der brasilianischen und argentinischen Präsidenten, eine neue, vom US-Dollar unabhängige Währung zu schaffen. Lateinamerika befindet sich nach Meinung politischer Beobachter in einer Auseinandersetzung globalen Maßstabs.
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