26. Jahrgang | Nummer 15 | 17. Juli 2023

Brauchen wir einen neuen Messias?

von Jutta Grieser

Der Blick wandert die graue Fassade hinauf. Einziges Farbelement – Farbtupfer zu sagen wäre eine maßlose Übertreibung – ist etwas Ocker, der auf ein halbes Dutzend Balkone und eine kahle Stirnseite verteilt ist. Achtzehn Etagen hoch ist dieser gesichtslose Kasten. Warum die Häuser hier so aussehen wie sie aussehen, erklärt sich aus ihrer Geschichte. Damals war „die Mauer“ von hier keinen halben Kilometer entfernt, das „Zonenrandgebiet“ gehörte für den Westberliner nicht zu den bevorzugten Wohngegenden. Und um die Ecke war das Notaufnahmelager Marienfelde, in dem die sogenannten Ostflüchtlinge untergebracht wurden. Heute ist die „Zonengrenze“ die Linie zwischen dem Land Berlin und dem Land Brandenburg und das Notaufnahmelager ein „Übergangsheim für Flüchtlinge und Asylbewerber“. Die damals gebauten Kästen stehen auch noch. Aber im Unterschied zu den etwa 250.000 Plattenbauten im Osten Berlins, die mehrheitlich in den letzten Jahrzehnten aufgehübscht worden sind, hat sich hier erkennbar nichts getan.

Die Antwort liefert das Publikum, das sich zu Füßen dieses Blocks in der Hildburghausener Straße 29 im Südwestens Berlins versammelt hat. Es handelt sich um Menschen, die erkennbar nicht vom Schicksal verwöhnt wurden. Stünde die Mauer noch, würde man sagen: Es sind die sprichwörtlich an den Rand Gedrängten. Kinderreiche Familien, notleidende Rentner, Langzeitarbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Menschen mit Migrationshintergrund – all jene also, die die Soziologen unter dem Begriff „Prekariat“ subsumieren.

Am Fuße dieser hässlichen Behausung der Ausgegrenzten – die wahrlich unschuldig sind an ihrem Los wie auch am Aussehen dieses jämmerlichen Bauwerks – hat der Berliner Landtagsabgeordnete Dr. Alexander King im Juli sein Kiezbüro eröffnet. Wiedereröffnet, weil Ende 2021 das seinerzeitige Wahlkreisbüro der Linken aufgegeben worden war. Ein durchaus für diese Partei exemplarischer Vorgang. Selbst wenn die Hintergründe und Zusammenhänge für den Rückzug in diesem konkreten Falle vielleicht andere waren: Symptomatisch war der Hergang doch. Die Partei orientierte sich zunehmend auf die besseren Stadtquartiere und deren Bewohner. Diese hier gehörten erkennbar nicht mehr dazu.

Insofern kann man diesem Schritt durchaus etwas Symbolhaftes unterstellen, eine Kurskorrektur. King kehrt dorthin zurück, „wo’s wehtut“, wie man in seinen Kreisen sagt. Dorthin also, wo politischer Beistand der Linken am Dringlichsten ist.

Seiner Einladung zur Büroeröffnung sind einige hundert Menschen gefolgt. Vorn, unterm roten Baldachin, macht eine Zwei-Mann-Band Musik, die Leute reden und rauchen miteinander, die Kinder nuckeln an Cola-Flaschen, wenn sie nicht gerade am Hüpfen sind.

Dann rollt eine fette Kalesche mit vier Ringen vor. Ihr entsteigt die Fraktionschefin der Linken Amira Mohamed Ali. Die Frau spürt das Anstößige dieser Szene und flieht geradezu aus dem Fahrzeug. Natürlich ist das eine Edelkarosse aus dem Fuhrpark des Bundestages, und mit dem Berliner Nahverkehr hätte sie vielleicht angesichts der vielen Baustellen und Ersatzverkehre von Mitte bis Marienfelde einen halben Tag gebraucht, außerdem ist Bundestagssitzung. Dennoch wirkt die Vorfahrt irgendwie degoutant. Mohamed Ali spricht auf der Bühne, einfach, schlicht und verständlich, das Publikum versteht sie und applaudiert. Die gebürtige Hamburgerin sieht nicht nur aus wie’n Hamburger Deern, sondern sie spricht auch so.

Danach tut sich eine Lücke auf. Die angekündigte Rednerin, so sagt King bedauernd, stecke im Stau und verspäte sich um einige Minuten. Die Kinder stört das nicht, sie hopsen kreischend weiter in der Hüpfburg, einige Männer gehen rüber zu REWE und holen sich noch ein Bier.

Dann rollt schließlich die zweite schwere schwarze Limousine heran, das halbe Dutzend Personenschützer bildet gleichsam Spalier. Die Dame im blauen Blazer, die dem Fahrzeug entsteigt, begrüßt sehr freundlich die Erste in der Garde. Die junge Frau in den grauen Jeans, nur unwesentlich größer als sie, reicht ihr lächelnd die Hand: So begrüßen sich gute alte Bekannte.

Neugierige Blicke und Applaus begleiten Sahra Wagenknecht. Im Publikum, auch das ist die reine Wahrheit, sagt eine Frau vernehmlich: „Die ist ja viel hübscher als im Fernsehen.“ Womit gesagt ist, dass nicht nur Männer Wagenknechts Gang durch die Menge andächtig verfolgen. Sie wirkt ein wenig nervös, angespannt. Erst zieht sie den Blazer aus, dann zieht sie ihn wieder an, geht mit der Schultertasche zum Mikrofon und quittiert dankbar, dass King sie von dem lästigen Anhängsel befreit. Doch als sie dort oben steht, passiert das, was im Lukas-Evangelium mit dem Satz beschrieben ist: „Und der heilige Geist fuhr hiernieder in leiblicher Gestalt.“

Nun ist die Frau wahrlich keine Heilige, aber sie verkündet Wahrheiten unverschnörkelt und verständlich. Augenblicklich hat sie die Leute, sie ist eine Menschenfängerin. Ihre Zuhörer hängen an ihren Lippen, bedenken fast jeden Satz mit Beifall. Sie attackiert die Bundesregierung, die sie für die dümmste nicht nur hierzulande hält, und nimmt sich insbesondere die Grünen vor. „Ich komme gerade aus dem Bundestag“, sagt sie mit weit ausgreifenden Gesten, und ab und an wischt sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, was aber vergeblich ist. Der Wind bläst ständig ums Hochhaus, und in dieser Ecke zieht es besonders. Sie nimmt sich einzelne Ressortchefs vor, welche Politik vorzugsweise für jene machten, bei denen Geld nicht so wichtig sei, weil man davon genug habe.

Mit solchen Bonmots trifft sie den Nerv der Leute unten.

Darf jemand so über Geld reden, der selbst zu den Spitzenverdienern im Bundestag gehört? Ich denke schon. Wohlstand verbietet doch nicht, das Elend dieser Welt zu erkennen, es anzuprangern und es zu überwinden. Wobei: Eigentlich belässt Wagenknecht es bei der Analyse. Wohin ihre und die Reise der Gesellschaft gehen werden, spricht sie wohlweislich nicht an. Gründet sie nun eine neue Partei oder nicht, raunt es im Publikum. Nein, das lässt sie auch diesmal offen. Auch andere Bundestagsabgeordnete, die ich im Publikum entdecke – Zaklin Nastic, Jessica Tatti, Alexander Ulrich und Ex-MdB Alexander Neu, ausnahmslos Wessis – halten sich diesbezüglich bedeckt. Aber deren Konzentration fällt auf. Wurde hier doch mehr als lediglich ein Kiezbüro eröffnet?

Sahra Wagenknecht spricht. Ohne Papier, aber mit erkennbarer Agenda und ungekünstelter Leidenschaft. Das ist echt. Der heilige Geist. Wenngleich sie sehr konzentriert und kontrolliert wirkt. Da „rutscht“ kein Satz raus, da rennt kein Gedanke schneller, als sie spricht und dann wieder eingeholt werden muss. Sie ist wirklich eine begnadete Rednerin, wie es nur wenige hierzulande gibt. Das Klügste, was diese Partei mit ihr hätte machen müssen: sie in Watte packen und immer vor an die Rampe schicken, wenn es die Kompetenz und die Sensibilität der Linken zu demonstrieren galt. Die Parteiführung jedoch tat das Dämlichste, was man tun konnte: Sie trieb ihr bestes Pferd auf den Schindanger. Kann auch sein, dass Wagenknecht diese Märtyrerrolle irgendwann nicht ganz uncharmant, gar nützlich fand. Ich weiß es nicht.

Dann steigt sie herab. Von der Bühne und stellt sich an einen Tisch. Die Menschen drängen auf sie zu und ein. Mit Blumen, mit Karten, mit Geschichten, manche haben auch einen Stick dabei, auf dem – vermutlich – die Lösung für alle Weltprobleme enthalten ist. Das müsse Frau Wagenknecht unbedingt lesen! Sie nimmt alles freundlich lächelnd entgegen, signiert, was ihr unter die Nase gehalten wird, auch einen Regenschirm, auf dem „Stop War“ steht. Viele drängeln an ihre Seite, um ein Selfie mit ihr zu bekommen. Auch Stefan Natke. Der Mittsechziger mit dem Schnauzbart und den grauem Lockenkopf stellt sich vor: Er sei der Berliner DKP-Vorsitzende. Kein Muskel zuckt im Gesicht der Linkspolitikerin, die Kamera klickt.

Die Menge hat sich längst zerstreut, als Sahra Wagenknecht noch immer am Tisch steht und sich Geschichten anhört. Sie wirkt unverändert aufmerksam und keineswegs gequält oder gelangweilt.

Und nun brauchte man noch einen, sagt zu seiner Frau ein fülliger Rentner – Typ enttäuschter SPD-Wähler oder sogar Mitglied –, der nicht nur gut reden, sondern auch gut organisieren kann. Die beiden schreiten davon. Nicht in das Hochhaus, sondern hinüber zum REWE-Parkplatz, wo vermutlich ihr Auto steht, um ins Eigenheim im Speckgürtel zu fahren.

Tja, denke ich, und wenn es ihn gäbe: Was wäre damit gewonnen?