Thomas Piketty, der mit „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ und „Kapital und Ideologie“ zwei umfangreiche und epochemachende (manche sprechen sogar von nobelpreiswürdigen) Analysen über Theorie und Geschichte der Verteilung vorgelegt hat, wurde oft gefragt, ob er das Thema noch einmal in kürzerer, kompakterer Form vorlegen könne. Das Resultat ist „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“, die 2022 bei Beck in München erschien. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat das Buch in einer faktisch kostenlosen Sonderausgabe herausgebracht. Dafür, wie auch für andere, gar nicht so selten gesellschaftskritische Veröffentlichungen internationaler Autoren, ist ihr zu danken.
Natürlich hat Piketty nicht lediglich seine beiden großen Werke in gekürzter Fassung herausgegeben. Seit etwa zehn Jahren werden in der von ihm und Wissenschaftlern aus aller Welt betreuten World Inequality Database historische Daten über die Verteilung von Einkommen, Vermögen und Reichtum gesammelt, analysiert und publiziert. Der Datenbestand und die analytische Breite und Tiefe haben sich seit Pikettys ersten Veröffentlichungen erheblich verbessert. Die „Kurze Geschichte …“ ist jedoch mehr als eine Präsentation neuer und aktualisierter Daten. Die Entwicklung der Verteilung wird nicht als das Resultat bestimmter Konstellationen einiger Kennziffern (am bekanntesten wurde die Formel r > g, Zinssatz größer als Wachstumsrate) und auch nicht nur als der Ausfluss von Ideologien, sondern als Ergebnis sozialer Kämpfe, kriegerischer Auseinandersetzungen und revolutionärer Ereignisse und Prozesse dargestellt. Auch was die Zukunft betrifft, geht es nicht mehr um die Extrapolation von Trends, sondern darum, wie sich diese Kämpfe gestalten und worauf sie konkret gerichtet sein könnten. Piketty ist Sozialist und stellt sich – wie ansatzweise schon in „Kapital und Ideologie“ (vgl. Das Blättchen 15/2020) – die Frage, wie an einen „demokratischen, ökologischen sowie ethnisch und kulturell diversen Sozialismus“ heranzukommen sei.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der (titelgebende) historische Tatbestand einer weltweiten und historisch lang andauernden, wenn auch nicht kontinuierlichen Bewegung in Richtung auf mehr Gleichheit. Zwar sei die Ungleichheit in vieler Hinsicht nach wie vor himmelschreiend und seit einigen Jahrzehnten wachse sie sogar wieder, aber der Abstand zwischen den Klassen, zwischen „Oben“ und „Unten“ zwischen den Ethnien und den Geschlechtern habe sich in den vergangenen fünfhundert Jahren insgesamt verringert. Das betreffe nicht nur Einkommen und Vermögen, sondern auch Bildung, Gesundheit und Lebenserwartung sowie die politische Teilhabe. Diese Tendenz zeige sich zwischen den sozialen Gruppierungen eines Landes, aber auch beim Vergleich der Länder untereinander. Der diesbezügliche Abstand zwischen Sklaven und Sklavenhaltern, zwischen Leibeigenen und Feudalherren oder Fürsten war wesentlich größer als der Abstand zwischen „Oben“ und „Unten“ heutzutage. Das treffe nicht in jedem Einzelfall, zu jeder Zeit und auf jeglichem Feld, aber im Großen und Ganzen zu. Bei der Entwicklung zu mehr Gleichheit würde insbesondere das 20. Jahrhundert, genauer: die Jahre zwischen 1914 und 1980 hervorstechen. Piketty kennzeichnet diesen Zeitraum als „die große Umverteilung“. Eric Hobsbawm hatte übrigens die Zeit zwischen 1945 und 1975 als „goldenes Zeitalter“ bezeichnet, in dem auch unter kapitalistischen Bedingungen ein großer sozialer Fortschritt errungen wurde.
Was war da konkret passiert? Nach Marx‘ allgemeinem Gesetz der Akkumulation des Kapitals kommt es ja eigentlich zu einer beständigen (ob absolut oder relativ, sei hier dahingestellt) Verschlechterung der Lage der Arbeiterklasse. Dies war über mehrere Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts auch der Fall; Piketty konstatiert einen Höhepunkt der Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten jenes Jahrhunderts. Und Generationen von Marx‘ Schülerinnen und Schüler haben zu beweisen versucht, dass genau das tatsächlich auch im 20. Jahrhundert passiert sei. Aber auch für Marx war diese Tendenz der Akkumulation des Kapitals in die sozialen Auseinandersetzungen der Klassen eigebettet und er begrüßte enthusiastisch jeden, auch schon zu seiner Zeit errungenen Erfolg der Arbeiterklasse auf diesem Gebiet. Letztlich würde genau dieser Kampf zu einem revolutionären Umbruch führen, der dieses Gesetz schließlich gegenstandlos mache. Und tatsächlich verstärkten sich gewisse Gegentendenzen und diese Kämpfe und die revolutionären Umbrüche des 20. Jahrhunderts brachten unverkennbare Fortschritte hervor. Noch im 19. Jahrhundert musste die Sklaverei aufgegeben werden und die Revolutionen nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg beendeten die klassischen Formen des Kolonialismus. Die Entstehung eines sozialistischen Lagers und einer stärker werdenden Arbeiterbewegung erzwang wesentliche Reformen in Richtung einer „großen Umverteilung“: Fortschritte im Wahlrecht und der politischen Teilhabe der unteren und diskriminierter Schichten, in Bildung und Gesundheit, bei der Stellung der Frau, Erfolge im Kampf gegen den Rassismus, Entwicklung ehemaliger Kolonien und abhängiger Territorien zu inzwischen selbstbewussten Akteuren im Weltgeschehen, Rückgang der Einkommens- und Vermögensschere in den kapitalistischen Hauptländern.
Soweit es um die Verteilung von Einkommen und Vermögen ging, waren nach Piketty neben den täglichen Kämpfen folgende Prozesse von wesentlicher Bedeutung. Zum einen wurde ein progressives Steuersystem mit höherer Besteuerung für höhere Einkommen und die Besteuerung von Vermögen und Erbschaften eingeführt. Damit wurden nicht nur allgemeine staatliche Aufgaben wie Bildung, Gesundheit und Infrastruktur, Rüstung und Krieg finanziert, sondern auch Sozialsysteme, die den unteren Schichten zugutekamen. Krisen und vor allem die beiden Weltkriege reduzierten zweitens vor allem die Einkommen und Vermögen der oberen Klassen. Die unteren Schichten hatten sowieso kaum etwas zu verlieren. Zudem entzogen die Entkolonialisierung und revolutionären Ereignisse den oberen Klassen und Schichten wichtige Einkommens- und Vermögensquellen.
Diese „große Umverteilung“ endete um 1980 in allen wichtigen kapitalistischen Staaten. Die Schocks von Krieg, Revolution und Entkolonialisierung waren eine Generation später verarbeitet. Die Gegenkräfte der kapitalistischen Akkumulationsgesetze nahmen nicht mehr zu. Im Gegenteil. Der Strukturwandel schredderte die traditionellen Zentren der Gewerkschaften und schwächte sie substanziell, der Sozialismus geriet zunehmend in die Krise und den ehemaligen Kolonien wurde ein neokoloniales Ausbeutungssystem übergestülpt. Die Politik des Neoliberalismus beendete die Phase wachsender, wenn auch erheblich begrenzter Gleichheit. Die Steuerprogression und die Gewinn- und Vermögensteuern wurden weltweit stark zurückgefahren. Insbesondere die neuen Freihandelsregimes und der freie Kapitalverkehr wirkten national „disziplinierend“ und zügelten die auf mehr Gleichheit drängenden Kräfte. Piketty spricht von einer „neuen Zensusmacht“; das alte Zensuswahlrecht wurde durch die Erpressungsmacht der „Milliardäre, multinationalen Unternehmen und Spitzenverdiener“ ersetzt, vor der die Regierungen kapitulierten.
Seine historischen Analysen haben Piketty gelehrt, dass bei entsprechenden Kräfteverhältnissen eine neue „große Umverteilung“ in Richtung auf mehr Gleichheit möglich ist. Er offeriert eine breite Palette an Maßnahmen und Ansätzen, die auch unter kapitalistischen Bedingungen möglich seien. Er geht aber darüber hinaus und fragt sich, ob es wieder zu einem revolutionären Schub kommen könnte. Im chinesischen Weg sieht er nicht unbedingt ein globales Vorbild und zeigt die „Schwachstellen einer perfekten digitalen Diktatur“ auf. Die Erfahrungen der Vergangenheit hätten gezeigt, dass historische Veränderungen von großer Tragweite aus Krisenmomenten, Spannungen und Konfrontationen hervorgehen. „Leider kann es gut sein, dass es erst größere Schäden braucht, die greifbarer und konkreter sind als die bisher erfahrenen, um den Konservatismus zu durchbrechen und das derzeitige Wirtschaftssystem radikal infrage zu stellen.“ Ob das ein optimistischer oder ein pessimistischer Ausblick ist, lasse ich dahingestellt sein.
Thomas Piketty: Eine kurze Geschichte der Gleichheit. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2022, 264 Seiten. Bereitstellungsgebühr 4,50 Euro.
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