26. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April

„Ein Volk von Herren“!
Heinrich Mann über Demokratie

von Wolfgang Klein

Man liest in diesen Monaten inflationär, dass „die Demokratie” in der Ukraine gegen die russische Aggression verteidigt werde und sich in der Welt gegen China behaupten müsse. Was Demokratie war und sein kann und in welchem Zustand sie sich im vielbeschworenen Westen zur Zeit befindet, wird dabei leider nicht in gleicher Intensität vor Augen geführt.

In der ersten demokratisch verfassten deutschen Republik, der Weimarer, hat Heinrich Mann vor rund hundert Jahren in zahlreichen Artikeln und Reden genau das unternommen. Die konkreten Umstände sind vergangen. Die Gesichtspunkte haben weiter politik- und sozialkritische Potenz. Zusammengefasst waren sie schon im Kaiserreich und wurden sie noch im USA-Exil in der Bestimmung von Demokratie als „ein Volk von Herren”. Dass das Wort Genderfanatikern missfallen könnte, kann vernachlässigt werden. Dass die Wirklichkeit ihm nie entsprochen hat, ist die Herausforderung.

Als im November 1918 die Herrenkaste die Macht verlor, hatte nach dem Urteil Heinrich Manns „das Volk mit seinen durchschnittlichen Fähigkeiten“ keineswegs schon „die großen Männer von ehedem […] überholt“ und lag das Erstarken seiner „sittlichen Kräfte“ noch in unabsehbarer Zukunft. Im Frühjahr 1919 war die Kritik der „heute aufeinanderprallenden Wellen des roten und des weißen Schreckens“ zu formulieren: „Deutschland zerfleischt sich jetzt im Namen des Besitzes, so ist es noch weit von Demokratie. Auf beiden Flügeln schreit es nach einer Diktatur und die Mitte verharrt in ungerechten Klagen, so ist es kaum erst aufgebrochen.“ Beim Blick auf das revolutionäre Russland galten die Sowjets, die Räte, als „eine neu belebende Idee“ der „Volksherrschaft“, „ein Lichtblitz, dem Chaos entsprungen“ – denn in ihnen schien das Ideal der direkten Demokratie auf. Konstatiert wurde zunächst jedoch das Chaos: „Während für jeden vernünftigen, organisierenden Geist die Schwierigkeiten hemmend wirken, entfesseln sie einen Gläubigen (die Bolschewisten) Alles auf einmal! Auf das Ganze! – Die Ungeduld der Massen u. ihren Egoismus sich nutzbar machen. Revolutionäre Energie (unsinnige Streiks, Putsche etc.) um ihrer selbst willen. Antidemokratisch, unsozialistisch. Welle der Anarchie u. des unorganisierten Raubes. Sie jagen die Nationalversammlung auseinander, nur weil sie selbst die Demokratie nicht für sich haben. Alle anderen Meinungen der Presse verbieten: dann sind sie Demokraten. […] Sie gestehen niemand das Recht auf das Leben zu. Daher ist alle Menschenbeglückung Lüge. Sie wollen nur Recht behalten, sind nur Egoisten, Tyrannen.“

Die hier stark beschnittene Ausführlichkeit der Betrachtung zeugt von brennendem Interesse. Der Befund jedoch war eindeutig: „Russland hat in Wirklichkeit noch Alles zu lernen, was Frankreich seit 1789 lernte. R. hat bisher weder Achtung vor dem Recht der Mehrheit, noch vor dem Menschenleben. Der erste Sturm bedeutet noch nicht Vollendung u. Ziel, weder damals noch heute. […] Mehrere 100 Jahre überspringt man nicht. […] Wir wollen ihren guten Willen achten, wollen die aus ihrer Noth geborene Idee früher bei uns aufnehmen, als sie die unsere verstehen können. Sie überschätzen wollen wir nicht.“

Das „zur eigenen Herrschaft gediehene Volk“ war nicht in Sicht, nirgends.

Heinrich Mann war jedoch nicht vom Schlage derer, die sich in eine solche Lage fügten. Vier knappe Sätze auf einem Notizblatt konzentrieren die Situation und die Perspektive, die er sah: „Vielleicht wird einst die Weisheit regieren (Akademie, China). Vorerst bleibt nur die Demokratie. […] Kleinbürgerliche Nivellierung. – wird vielleicht Vergeistigung.“ Das letzte Wort war unterstrichen. Aber die Weisheit auf die von Flaubert 1870/71 gegen die Schrecken des Krieges und der Pariser Commune angerufene „Akademie der Wissenschaften“ und die buddhistisch gebildeten Beamten der Söhne des Himmels zu beschränken hieß: Ein Volk von Herren wird es bis auf Weiteres nicht geben. Wenigstens jedoch sollte die alte Herrenkaste nicht mehr die Macht haben. In einem Brief: „Wir müssen, so gut wie Andere es müssen, die Epoche der rein kapitalistischen Demokratie überstehen.“

Als Heinrich Mann im Juli 1920 – neben Thyssen, Rathenau und anderen – gefragt wurde: „Wie kann dem deutschen Volke überhaupt noch geholfen werden?”, verwies er auf „die Parteien der redlich arbeitenden Vernunft, deren politischer Name Demokratie ist“, und forderte „Geduld“. In einem gleichzeitig gegebenen Interview betonte er: „… an Stelle des bei uns herrschenden absolutistischen und reaktionären Regimes“ gehe es um die „bürgerliche Demokratie“ – „zurückgehend auf die Traditionen der großen französischen Revolution und der achtundvierziger Jahre, aufgebaut nach dem Muster der parlamentarisch und konstitutionell regierten Weststaaten“.

Noch im selben Atemzug jedoch bewährte sich weiterhin sein kritischer Kopf. Zum Versailler Vertrag fügte er hinzu: „Die bürgerliche Demokratie der siegreichen Ententestaaten wurde ihren großen Traditionen untreu und erwies sich als unfähig, einen gerechten Frieden zu schaffen.“ Dann ging der Blick nach innen: „Welche größte, ständige, dabei ungreifbare Gefahr bedroht jede ernstgemeinte Demokratie? Die Reichsten.“ Als er im August 1923 dazu aufrief, die Weimarer Verfassung als „Fackel hochzuhalten“, verwendete er zu deren Realität nirgends das Wort ,Demokratie‘. Hervorzuheben waren „der kriegstolle Nationalismus“, „das Kapital“ und ein Reichstag als „Haus der Gespenster. Man hat so etwas noch nicht gesehen. Eine Gespenstersonate, eine tragische Groteske dieser Art hat noch kein Theater gespielt.“ Kurz darauf – der sogenannte Ruhrkampf und die Inflation erreichten ihren Höhepunkt – rief Heinrich Mann Reichskanzler Stresemann zu einer „Diktatur der Vernunft“ auf: gegen „eine Gierigstenherrschaft, so gierig, daß sie auch noch den Namen der Demokratie stiehlt“. Das Ziel, schrieb er, „ist erfüllte Demokratie“ und „soziale Demokratie“.

Mehr als neun Jahre lang setzte er sich danach dafür ein, die Weimarer Republik diesem Ziel näher zu bringen. Zu konstatieren hatte er immer wieder, dass die „Neuheit der parlamentarischen ‘Demokratie’ ein völlig unerlaubtes Mass übler Eigenschaften gezeigt hat, kaum dass Deutschland sie in Gebrauch nahm“. Von der „nichts als parlamentarischen Demokratie“ hielt er weiter wenig. Wo er auf deren „gegebene Wirklichkeit“ zu sprechen kam, galt es ihm dennoch schon als „ein wichtiger Fortschritt“, dass das Volk nicht mehr „tat, was seine Monarchen wollten“. Einmal, kurz bevor die NSDAP fast 40 Prozent der Stimmen bekam, benannte er unter dem trotzigen Titel „Die Demokratie bleibt unbesiegbar“ in Punkt 1. bis 9. „die Ziele, nach denen unsere Vorfahren und noch wir selbst unser ganzes sittliches Leben gerichtet haben […]: Die nationale Freiheit. […] Die Freiheit des einzelnen. […] Die Gleichheit vor dem Staat und vor dem Gesetz. […] Die Mitbestimmung […] vermittels des passiven und des aktiven Wahlrechts, vermittels der Parteien und Parlamente. […] Das Recht und die Freiheit der Meinungen, sich öffentlich zu äußern […]. Die Freiheit der Forschung und ihrer Lehre. […] Die Freiheit der Kunst und ihrer Darbietung. […] Die sozialen Rechte. […] Das Recht auf Leben als Grundlage aller Rechte und Freiheiten.“ Wie zitiert: Das war eine Aufzählung nicht politischer, sondern sittlicher Forderungen.

Nirgends deutlicher als in der Verurteilung eines politischen Mordes in Rumänien, in der erneut ,Demokratie“ nicht erwähnt wurde, war Ende 1926 die Radikalkritik formuliert, die aus der Diskrepanz zwischen der Realität und den Forderungen folgte: „Sind wir besser? […] Der Westen war einst das Maß für die Sittlichkeit, die anderswo wenigstens vorgetäuscht ward. Jetzt bemißt man nach ihm, wieviel vom Gegenteil erlaubt ist. […] Wir müssen uns ändern. Wir müssen uns auf uns selbst besinnen.“ Uns selbst – das meinte das Ideal, das in der Geschichte des westeuropäischen Geistes bereits formuliert, aber nie zur Wirklichkeit geworden war. Heinrich Mann verteidigte und kritisierte die Weimarer Republik nicht als Demokrat im geläufigen Sinn: Demokratie wäre eine Form für ein gesittetes – ein die Grundlagen für das zwischenmenschliche Verhalten in einer Gesellschaft sicherndes – und ein noch nie gelebtes Leben. Um das ging es ihm: Damit das Volk als Gesamtheit von Herren sich selbst regieren könne, sei „aus Massen die menschlich bewußte Gesamtheit zu machen“. Demokratie summiere sich „aus dem Selbstbewußtsein aller einzelnen! Die Demokratie will die Staatsbürger reif zur Selbstbestimmung machen.“ So stand es im April 1932 in einem Wahlaufruf.

Wie käme man in diese Richtung voran? Heinrich Mann übersah nicht, dass Demokratie „sozialen Ausgleich“ erforderte, „auch wirthschaftlich verwirklicht“ und „den Interessen aller Arbeitenden“ gemäß sein musste, um als solche bezeichnet werden zu können. Die wichtigste Voraussetzung für die Möglichkeit und das Entstehen von Demokratie hieß für ihn jedoch: Erziehung. Praktisch orientierte er vor allem auf „Volksbildung“, das Verbreiten „humaner Bildung“ und „die Einheitsschule“, „die deutschen Lesebücher“ und „das Kino“ als „Mittel zur Verbreitung von Wissen, Aufklärung und Bildung“. All dies aber, musste er sehen, verhinderte nicht den Abweg zu jener unmenschlichen Alternative, die immer möglich war und die er klar benannte, als sie sich im Dezember 1932 erneut abzeichnete: „Entweder werden diese Massen das blinde Werkzeug weniger unverantwortlicher Befehlshaber, oder sie werden sich selbst gestalten.“

Als der Zivilisation „Zerfall und Verwilderung“ drohten, die Demokratie „noch ungeformt und ungeschult“ war, weil die Massen sich nicht selbst zu gestalten vermochten, und alle anderen Mittel versagten, brachte Heinrich Mann eine letzte Möglichkeit ins Gespräch: verantwortliche statt der unverantwortlichen Befehlshaber. Dem Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei sagte der Gastredner im April 1927: Wir brauchen „geistige Führerschaft. […] Die richtig verstandene Demokratie“ muss „das Mittel zur Züchtung der Besseren und Besten sein. […] Seinen Adel braucht jeder Staat.“ Da ein Volk von Herren nicht in Sicht war, richtete er den Blick auf Männer, die nicht einer Herrenkaste zugehörten, sondern dadurch groß wurden, dass sie sowohl „Tatmensch“ wie „Denker“ waren und „die praktische Klugheit erlernt hatten als Mittel für Höheres“. Masaryk, Gründer und Präsident der Tschechoslowakei, galt ihm als fähig, den Gemeinwillen noch dann zu verkörpern und ihn auszubilden, wenn der „Wille aller“ oder der meisten aus Verblendung oder Einzelinteressen „zu wollen scheint, was schlecht ist“. Der französische Premier- und Außenminister Briand konnte in der Krise der Weimarer Republik mit dem Satz zustimmend zitiert werden: „Einen einzigen Faustmenschen braucht eure deutsche Republik.“ Wäre die geballte Hand geführt im faustischen Streben nach tieferer Erkenntnis, könnte sie der Sittlichkeit aufhelfen, zu der sich ein Volk, das „nicht ungetrübt“ sah, nicht selbst zu erheben vermochte. Wenn nur noch zu hoffen blieb: „es muß doch noch Witterung haben, wie selbst das Tier, wenn die Schlachtbank nahe rückt“, waren Männer großen Geistes zu suchen – die nicht nur, wie an dem sozialistischen Premier der Volksfrontregierung Léon Blum bei einer kurzen Begegnung bemerkt, „ein vorzüglich durchgebildetes Gesicht“ und „liebenswürdigen Takt“ mit einem „Intellekt ohne Leidenschaft“ verbanden.

Seit der Aufforderung an den Reichskanzler zur „Diktatur der Vernunft“ in der Krise der Republik 1923 richtete sich der Ruf mehrfach und mit scharfen Adjektiven an die Politiker. Der Entwurf eines Aufrufs nach dem ersten großen Wahlerfolg der NSDAP 1930 verschreckte erst Gerhart Hauptmann und dann auch den Bruder Thomas: „Wir fordern die drakonische Republik.“ Die Verurteilung von Hinrichtungen in der Sowjetunion ein Jahr später stand in einem Satz, an dessen Anfang „eine radikalisierte Demokratie“ zustimmend gesehen war. Dass die deutsche Demokratie „stolz auf ihre Gewaltlosigkeit“ war, schlug ihr nicht mehr zum Ruhme aus: „Bis heute hat sie die Anwendung von Gewalt ihren Feinden überlassen, die von der gütigen Erlaubnis bestens Gebrauch machen.“ Aufs eigene Handeln gewendet: „Nur die autoritäre Demokratie wird bestehen.“ „Mit dem Ziel, die kommende zweite Republik geistig zu überwachen“, war Anfang November 1932 „ein Oberhaus“ ins Auge gefasst. Statt all dessen jedoch übergab sich die „kapitalistisch-demokratische Gesellschaft“ einem sittenlosen Diktator.

Nach Jahren der Gewaltherrschaft notierte dieser Schriftsteller und Intellektuelle am Beginn des Zweiten Weltkriegs: „Die Deutschen werden mehrerer Geschlechter und einer angespannten Lehrzeit bedürfen, bis sie im eigenen Lande das Menschliche zu achten, ihre aufgewühlten Triebe zu verachten anfangen. Die einzige deutsche Politik der folgenden Jahrzehnte hat eine Schulpolitik zu sein.“

Sein Ideal eines „Volks von Herren“ war inspiriert von Rousseaus Abhandlung „Vom Gesellschaftsvertrag“. Eine der realistischsten Überlegungen darin lautet allerdings: „Gäbe es ein Volk von Göttern, es würde sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung ist für Menschen nicht angemessen.“

Die Schreibweisen der Originalwerke wurden beibehalten.