26. Jahrgang | Nummer 6 | 13. März 2023

Schäferstündchen

von Erhard Crome

Bis vor kurzem war schwer zu verstehen, weshalb die meisten sozialistischen Parteien 1914 bei Kriegsausbruch in Konfusion gerieten, frühere Grundsatzbeschlüsse für den Frieden und gegen den imperialistischen Krieg beiseite schoben, sich auf den Standpunkt der „Vaterlandsverteidigung“ stellten und dem nationalen Taumel anheimfielen. Die zuvor stolzen deutschen Sozialdemokraten stimmten mehrheitlich rasch den Kriegskrediten zu und wurden entschiedene Patrioten. Kriegsgegner wurden nicht nur von der Parteiführung an den Rand gedrängt, sondern von Staats wegen aus dem Verkehr gezogen, Rosa Luxemburg landete im Gefängnis, Karl Liebknecht als Soldat an der Front. Mit dem Krieg zerfiel die Sozialdemokratie in drei Teile, aus denen am Ende die SPD und die KPD hervorgingen.

Die weltpolitische Gemengelage heute ist anders. Die SPD steht auf dem Standpunkt der westlichen Globalpolitik und vertritt die Interessen der USA und der NATO. Deutsche Soldaten müssen – bisher – nicht in den Krieg ziehen, Deutschland unterstützt jedoch eifrig die Ukraine. Die wiederum führt einen Verteidigungskrieg gegen den Überfall Russlands, zu dem sie nach Völkerrecht das legitime Recht hat. Zugleich ist dieser Krieg Vehikel der USA, Russland in einem möglichst langandauernden und verlustreichen Krieg maximal zu schwächen. Die menschlichen und materiellen Opfer der ukrainischen Bevölkerung interessieren nicht wirklich, nur im Sinne der Befeuerung westlicher Kriegspropaganda. Die Grünen – ehemals linksblinkende, kleinbürgerliche Abtrennung von der SPD – sind heute entschiedenste Kriegspartei in Deutschland. Immer wenn nach dem Kalten Krieg Sozialdemokraten und Grüne gemeinsam regierten, beteiligte sich Deutschland an Krieg. Freie und Christdemokraten tragen diese Politik mit.

Die eigentlich interessante Frage ist, wie sich die Linkspartei verhält. Grundsätzlich die friedenspolitische Position zu vertreten, war seit Ende des Kalten Krieges ihr „Markenzeichen“, sie protestierte laut und deutlich gegen die Irak-Kriege des Westens 1990 und 2003, gegen den Jugoslawien-Krieg der NATO 1999, gegen den Afghanistankrieg unter Beteiligung der Bundeswehr ab 2001 und den Krieg gegen Libyen 2011. Und heute? Die Linke wiederholt die Spaltungen der Sozialdemokratie von 1914. Die einen nehmen den Standpunkt der ukrainischen Vaterlandsverteidigung ein, weil die völkerrechtswidrig von Russland überfallen wurde. Andere vertreten einen Standpunkt russischer Vaterlandsverteidigung, sie meinen, Russland sei von den Globalstrategen der USA und der NATO in die Ecke gedrängt worden. Der Standpunkt des sofortigen Friedens, wie er in dem Manifest von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer artikuliert wurde, wird nicht nur von den versammelten bürgerlichen Medien, sondern mehrheitlich auch von den Vorturnern der Linkspartei verschrien.

Marxens berühmtes Bonmot von der Tragödie und der Farce rückt wieder ins Blickfeld: Die Tragödie war die von 1914, die Farce die Linke von heute. Dies jedoch unter der Perspektive der Weltgeschichte: die 4,9-Prozent-Partei spielt für Deutschlands Positionierung in diesem Krieg ohnehin keine Rolle. Für Mitglieder, Sympathisanten und Wähler der Linkspartei sind die derzeitigen Zerwürfnisse, Austrittsbekundungen und wechselseitigen Anfeindungen dagegen durchaus eine Tragödie. Es läuft historisch darauf hinaus, es wird für absehbare Zeit keine ernstzunehmende Linke in Deutschland mehr geben.

Paul Schäfer hat versucht, den Klingbeil zu geben. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hatte die gesamte Entspannungspolitik der SPD seit Willy Brandt zu widerrufen versucht. Schäfer will der Friedenspolitik der Linken seit den 1990er Jahren den Abschied geben. Dabei dampfte Paul schon in allen Gassen: 1970 bis 1988 war er – wie bei Wikipedia nachzulesen ist – im „Marxistischen Studentenbund Spartakus“ und in der DKP, 1993 bis 1999 in der SPD, seit 2000 in der PDS, dann in der Linkspartei. 2005 bis 2013 war Schäfer für die Linke Bundestagsabgeordneter. 2013 wurde er in Nordrhein-Westfalen nicht wieder angetreten; er war für regierungskompatible Positionen in Sachen Verteidigungs- und Außenpolitik bekannt. Jetzt verbellt er das „Wagenknecht-Schwarzer-Bündnis“. Daraus werde „keine neue Friedensbewegung“ (TAZ, 28.02.2023). Welche seiner ausprobierten Parteiidentitäten er damit reaktivieren will, ist unklar. In der SPD kommt er wohl nicht wieder an. Als rechtsdrehender Tonträger unter dem Label „Linkspartei“ findet er gewiss mediale Räsonanz.

In dem TAZ-Gespräch, kurz nach der großen Kundgebung in Berlin geführt, die das Wagenknecht-Schwarzer-Bündnis organisiert hatte, nennt Schäfer dies eine „Mischung von Links- und Rechtspopulisten, Querdenkern und Schwurblern“. Das sei „jedenfalls nicht die Friedensbewegung, die ich mir vorstelle“. Politisch ist Schäfer hier bei den Grünen und der Klingbeil-SPD. Die „Welt als Wille und Vorstellung“ ist bei ihm jedoch faktisch keine Friedensbewegung, oder eine, die Akklamation für die Regierungspolitik organisiert. Man müsse Putin militärisch klarmachen, dass er nicht durchkommt. Deshalb müsse „man die ukrainische Position stärken“. „Das schließt aus meiner Sicht ein, der Ukraine nötige Waffen zu liefern.“ Dies sei Aufgabe „für eine progressive Linke“. Eine solche, ohne friedenspolitisches Eigenprofil braucht jedoch niemand, das erledigen Grüne und SPD schon ganz allein.

Bereits zuvor hatte Paul Schäfer in einem längeren Beitrag in den „Blättern für deutsche usw. Politik“ eine geopolitische Perspektive auf den Ukraine-Krieg und die Einordnung als Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland als das Beschwören alter „Freund-Feind-Koordinaten“ unter Linken bezeichnet, das sei „das Sich-Eingraben in alten Gewissheiten gegenüber einer unverstandenen Welt“. Auch dort argumentierte er für Waffenlieferungen an die Ukraine. Namentlich die Linkenpartei-Vorsitzende Janine Wissler kritisierte er, sie rufe „Solidarität mit der Ukraine“, verweigere jedoch die Zustimmung zu Waffenlieferungen. Das sei „Ausdruck von Politikunfähigkeit“.

Wissenschaftsmethodisch leugnet Schäfer die Relevanz einer geopolitischen Betrachtung. Das sei eine Anleihe bei konservativen Verfechtern der „neorealistischen Schule“ wie John Mearsheimer, die „ausschließlich auf Macht, Imperien und Militär fokussiert“ seien. Demgegenüber gelte es, „gesellschaftliche Verhältnisse, Prozesse und Widersprüche, die zwischen Menschen ausgetragen werden“, in den Blick zu nehmen. Das ist eine vulgär-marxistische Argumentation. Selbstverständlich gilt immer, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die ihnen zugrunde liegenden Widersprüche zu analysieren. Gleichwohl ist es nötig, bei der Analyse der internationalen Staatenbeziehungen die Staaten als Akteure und Träger von Interessen zu betrachten – entgegen pseudolinken Interpretationen, Staaten könnten keine national-staatlichen Interessen haben, weil in ihnen Klassenwidersprüche zu finden sind. Staaten haben immer auch als solche Interessen, die durch das jeweilige Herrschaftssystem und innere Klassenkompromisse hergestellt werden.

Geopolitik galt vor dem Zweiten Weltkrieg als eine Denkrichtung der politischen Reaktion, die Welt in machtpolitische Großräume zu teilen. In Deutschland schien das mit der Zerschlagung des Hitlerfaschismus erledigt. Eine marxistische Perspektive mit der Analyse von Imperialismus, Kolonialismus und US-amerikanischer Globalstrategie, der der Sozialismus als Welt des Friedens gegenüberstand, öffnete eine grundsätzlich andere Perspektive. Der Krieg zwischen China und Vietnam 1979 fand jedoch keinerlei Erklärung mit den üblichen analytischen Zugängen. Die „Roten Khmer“ hatten Mitte der 1970er Jahre ein mörderisches Regime in Kambodscha errichtet, Vietnam war dort 1978 einmarschiert, um das Morden zu beenden – das war im Grunde die einzige erfolgreiche humanitäre Intervention, die zwar nicht dem Interventionsverbot der UNO-Charta entsprach, aber erfolgreich war im Sinne der Beseitigung des Mordregimes. Das damalige, noch im engeren Sinne maoistische Regime Chinas, das zuvor mit den Roten Khmer verbündet war, eröffnete daraufhin einen Krieg vom Norden aus gegen Vietnam. Da beide Seiten „sozialistische Länder“ waren, gab es weder aus der üblichen Imperialismus- noch der Klassenanalyse eine folgerichtige Erklärung dieses Krieges. Französische linke Geopolitiker – die nicht so historisch verkrampft waren, wie die deutschen – schauten daher auf die Karten und die Geschichte und machten geltend, dass man dies nur geopolitisch erklären könne. Seither sind geopolitische Betrachtungen auch Teil linker Analysen der internationalen Beziehungen.

Paul Schäfer zelebriert vor aller Augen sein Schäferstündchen mit der Macht. Aber die Denunziation der Geopolitik macht die Sache als solche nicht besser.