26. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2023

Narben halten länger als Küsse

von Ulrich Busch

Erwähnt man heutzutage die Ungerechtigkeiten, die 1990 und in den Jahren darauf Ostdeutschen im vereinigten Deutschland widerfahren sind, so stößt man zumeist auf Unverständnis und Ablehnung. Insbesondere bei Jüngeren nicht selten in schroffer Form, ebenso bei Westdeutschen. Aber auch viele Ostdeutsche sind es inzwischen leid, die alten Wunden immer wieder aufzureißen und an das damals Geschehene zu erinnern. Das alles sei, so die Argumentation, jetzt mehr als dreißig Jahre her und folglich doch längst Geschichte! Zudem sei es einseitig, subjektiv und geradezu verstörend, wenn im Ton unerträglicher Larmoyanz immer nur das im Vereinigungsprozess Schiefgelaufene thematisiert werde, das Ostdeutschen zugefügte Unrecht, die sinnlose Zerstörungswut in Wirtschaft und Kultur, der nicht überall gerechtfertigt gewesene Elitenwechsel, die Arroganz, schamlose Vorteilsnahme und ekelhafte Heuchelei von Westdeutschen et cetera, et cetera. Demgegenüber werden die Wohltaten, welche der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik den Ostdeutschen beschert habe, die D-Mark, der freie Markt, die Demokratie und vor allem die unbegrenzte Freiheit, als selbstverständliche Boni hingenommen, ohne Dank und Anerkennung, einfach so.

Nun ja, das ist wohl so. Narben halten nun mal länger als Küsse! Daran lässt sich nichts ändern. Und eine Aufrechnung des einen gegen das andere ist unmöglich. Dies allein schon deshalb, weil die positiven und die negativen Effekte der deutschen Einheit ganz unterschiedlich zwischen den einzelnen Individuen und sozialen Gruppen verteilt sind. So überwiegen bei den Jüngeren zweifellos erstere, die positiven Effekte, während die Älteren mit einem unterschiedlichen Mix beider Wirkungen zurechtkommen müssen.

Wäre dies die ganze Wahrheit, so hätte sich das hier behandelte Problem bald erledigt. Es würde mit dem Abgang der älteren Generation einfach aussterben. Wie wir inzwischen wissen, ist dies mitnichten der Fall! Das Problem der ungerechten Behandlung Ostdeutscher, ihrer, im Vergleich mit Westdeutschen, geringeren beruflichen und sozialen Aufstiegschancen, unterproportionalen Partizipation am Wohlstand des Landes, niedrigeren Entlohnung und absolut wie relativ signifikant schlechteren Vermögenslage, ihrer ungünstigeren Lebensbedingungen und, trotz aller vollmundigen Versprechungen, nicht gleichwertigen Lebensverhältnisse, sind auch 33 Jahre nach dem Beitritt eine unbestreitbare Tatsache. Dies lässt sich statistisch eindeutig belegen und wird von den Menschen im Osten mehrheitlich auch so empfunden. Wird dies allerdings öffentlich geäußert, in entsprechenden Verlautbarungen und Meinungsumfragen, Büchern, Artikeln oder auch bloß in Leserbriefen, so erntet man massiven Widerspruch. Vor allem aus dem Westen, wo man dies partout nicht wahrhaben will. Stattdessen beharrt man hier auf einer Betonung der „positiven Errungenschaften“ der deutschen Einheit und auf einer „differenzierenden Sicht“ des unbestreitbaren „West-Ost-Gefälles“ auf fast allen Gebieten. 

Die Forderung nach Differenzierung bedeutet jedoch, wie Dirk Oschmann in seinem jüngsten Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“, Berlin 2023, feststellt, nichts anderes als „ein Ausweichen vor der realen Problemstellung“ und „ein gezieltes Verwischen jener Unterschiede“. Ja, mehr noch: „Die Forderung nach Differenzierung ist der charakteristische Ausdruck für das radikale NICHTWAHRHABENWOLLEN der gesamten Situation.“ Die von dem Autor zuerst in der FAZ und dann noch einmal ausführlicher in seinem Buch angesprochene deutsch-deutsche Verstimmung weist auf zwei folgenschwere Probleme hin: Einerseits wird heute, nach mehr als 30 Jahren, für alle sichtbar, wie und mit welchen langfristigen Wirkungen im Jahr 1990 die Weichen gestellt worden sind. Aspekte, die damals von den verantwortlichen Politikern unbewusst – oder ganz bewusst – für unwesentlich erklärt worden sind, für nachrangig oder vernachlässigbar, wie beispielsweise die Ausgestaltung der Eigentumsverhältnisse in Bezug auf das Produktiv- und Immobilienvermögen (die Frage: Restitution oder Entschädigung?) und die Regelung vermeintlich „offener“ privater Vermögensfragen, erweisen sich letztlich als entscheidend für die Teilhabe der Ostdeutschen am bundesdeutschen Wohlstand und als ausschlaggebend für die Qualität der Lebensverhältnisse. Im vereinigten Deutschland gilt es heute daher als „Normalität“, dass „die Leute im Osten ökonomisch schlechter gestellt sind, dass ihnen selbst im Osten nichts gehört, das sie nichts zu bestimmen haben, dass sie nicht als Teil des öffentlichen Diskurses gelten“. Und, dieser Missstand verwächst sich eben nicht mit der Zeit, wie immer wieder behauptet wird, sondern reproduziert sich im Zeitverlauf.

Damit verbunden ist ein zweiter Aspekt. Dieser betrifft die Stigmatisierung, Benachteiligung und Ausgrenzung Ostdeutscher, welche keineswegs auf die ältere Generation beschränkt ist, sondern vielmehr bis heute anhält. So besteht (nach Oschmann) das größte Lob, das man heutzutage als Ostdeutscher von Westdeutschen erhalten könne, darin, dass es gar nicht zu merken sei, dass man „Ostdeutscher“ ist. Das wirkt auf einen Wissenschaftler wie Dirk Oschmann, der an der Leipziger Universität eine Professur für Neuere deutsche Literatur innehat, natürlich befremdlich. Und es wirkt auch beleidigend, dass jede ostdeutsche Sprecherposition irgendwie „markiert“ oder „pathologisiert“ ist, nämlich als „nationalistisch, reaktionär, rechtsradikal, ostalgisch, antidemokratisch, laut, kollektiv, minderwertig, kompensatorisch“, zumindest aber „provinziell und muffig-kleinbürgerlich“. Wie soll man sich da „auf Augenhöhe“ begegnen? Es ist unmöglich!

In aller Deutlichkeit zeigt sich dies im akademischen Rahmen, insbesondere an den wirtschafts- und sozial- sowie geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten, wo man nur ausnahmsweise auf Personen mit ostdeutscher Herkunft trifft. „Oft schämen sie sich ihrer Herkunft und verschweigen die stigmatisierte Vergangenheit.“ Die nach 1990 im Osten neu berufenen Professoren aus dem Westen hatten in der Regel ihre Doktoranden und Postdoktoranden mitgebracht. Dadurch wurde gesichert, dass auch die nächste Wissenschaftlergeneration im Osten Westdeutsche sind, während die universitären Zukunftsaussichten für den wissenschaftlichen Nachwuchs aus dem Osten gegen Null gehen. Auf diese Weise erscheint der Elitenwechsel in Ostdeutschland auch mehr als drei Jahrzehnte nach der Vereinigung als noch nicht abgeschlossen. Oder vielmehr doch: Die attraktivsten Posten in Lehre und Forschung, Wissenschaft und Kunst, Administration und Verwaltung sind inzwischen dauerhaft mit Westdeutschen besetzt. Für die Ostdeutschen bieten sich andere Möglichkeiten einer beruflichen Betätigung. Wie äußerte sich doch Arnulf Baring 1991 über die deutsche Einheit? „Es handelt sich […] um eine langfristige Rekultivierung, eine Kolonisierungsaufgabe, eine neue Ostkolonisation.“ – Diese geht weiter und hat Folgen, für die Gegenwart und für die Zukunft.