26. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2023

Der Sohn des Geheimrats

von Mathias Iven

Er stand nicht nur Zeit seines Lebens im Schatten des Vaters, auch die Literaturwissenschaft hat August von Goethe nie so richtig in den Blick genommen. Stephan Oswald hat sich dieser Aufgabe gestellt und, das darf man an dieser Stelle vorausschicken, eine äußerst gelungene „Ehrenrettung“ unternommen. Denn, so Oswald, erst wenn man August „endlich einmal selbst zu Wort kommen lässt“ wird klar, wer dieser „angeblich missratene Sohn“ wirklich war „und wer er unter anderen Lebensumständen hätte sein können“.

Von Geburt an wurde Augusts Lebensweg durch den Vater bestimmt. Der sah ihn, seine berufliche Laufbahn betreffend, schon früh als Teil der herzoglichen Verwaltung. Noch während der Sohn studierte, kümmerte sich Goethe bereits darum, August in die Weimarer Beamtenhierarchie einzugliedern. So bat er Herzog Carl August im Oktober 1810, seinem Sohn die Stelle eines „Cammerassessors“ zu verschaffen – das Gesuch wurde umgehend bewilligt. Im Dezember 1811 – August hatte inzwischen sein Jurastudium in Jena abgeschlossen – folgte die Ernennung zum „wirklichen Assessor“. Ein Jahr später erhielt er das Stimmrecht und wurde damit zum vollgültigen Mitglied des Kammerkollegiums. Mit Wirkung vom 22. Dezember 1815 durfte er schließlich den Titel eines Kammerrats führen. Und Ende 1823 beförderte ihn Carl August „als Beweis Unserer Zufriedenheit mit den von ihm geleisteten treuen und nützlichen Diensten“ zum Geheimen Kammerrat. Mit gerade einmal 34 Jahren hatte August von Goethe damit den höchsten Rang seiner Karriere erreicht.

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass August in all den Jahren nie selbst in Erscheinung trat. Anhand der überlieferten amtlichen Unterlagen, vor allem aber auf Grundlage der Korrespondenz Goethes mit seinem Ministerkollegen Christian Gottlob von Voigt lassen sich die bürokratischen Abläufe bis ins letzte Detail rekonstruieren, über August selbst hingegen erfährt man nichts. „Das ganze Verfahren“, resümiert Oswald, „ging offenbar buchstäblich über seinen Kopf hinweg, nirgendwo findet sich ein Anzeichen, dass er selbst aktiv geworden wäre. Er gehorchte, so wie er sich auch allen späteren Eingriffen des Vaters in sein Leben fügte.“

Und so war es für Goethe eine Selbstverständlichkeit, dass August nach dem Tod seiner Mutter, ungefragt und notgedrungen, deren Rolle übernehmen musste. Zukünftig hatte er sich nicht nur um die Führung des Haushalts am Frauenplan und des Zweithaushalts in Jena zu kümmern, hinzu kam eine Fülle von Aufträgen und Erledigungen. „Es mag provozierend klingen, doch der Begriff des Faktotums im weitesten Sinne trifft Augusts Position genau. Er musste die Lebensgrundlage garantieren, die Goethe für seine Arbeit brauchte.“ Dazu gehörte auch, den Vater bei öffentlichen Anlässen zu vertreten, sei es in der Freimaurerloge oder bei Jubiläumsfeiern. Wann immer dem Vater ein Auftrag lästig war und er nicht in seiner Arbeit gestört werden wollte, schickte er August. Was Goethe bei all dem scheinbar überhaupt nicht interessierte: so ganz nebenbei war August Ehemann und Vater. Im Juni 1817 hatte er Ottilie von Pogwisch geheiratet, zehn Monate darauf kam als erstes Kind Walther zur Welt, zwei Jahre später folgte Wolfgang und nach längerer Pause wurde am 29. Oktober 1827 Alma geboren.

Seine einzige große und zugleich letzte Reise führte August 1830 nach Italien. Mitte Oktober traf er, begierig auf das, was ihm die Ewige Stadt bieten würde, in Rom ein. Doch im Verlauf der folgenden zehn Tage verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zusehends. Am Abend des 27. Oktober starb August an einer eitrigen Hirnhautentzündung. Zwei Tage später wurde er unter großer Beteiligung der in Rom ansässigen deutschen Kolonie auf dem außerhalb der Stadtmauer gelegenen Friedhof der Acattolici, der Nicht-Katholiken, beigesetzt.

Unter dem Datum des 1. Juli 1830 hatte August in seinem Tagebuch festgehalten: „Es ist freilich ein wunderbares Gefühl eine Zeit lang ganz sein eigener Herr zu seyn, und man muß sich in acht nehmen sich nicht zu sehr daran zu gewöhnen.“ Aus diesen wenigen Worten spricht, wie Stephan Oswald am Ende seines Buches schreibt, „die ganze Tragik von Augusts Leben: die Potentialität mit dem gleichzeitigen Wissen um die Unmöglichkeit von Verwirklichung“.

Oswalds Buch ist eine akribisch recherchierte Vater-Sohn-Biographie, die den verzweifelten, ja geradezu tragischen Kampf des Sohnes um Anerkennung in den Mittelpunkt stellt. „Ich hoffe“, schrieb der 27-jährige August dem Vater, „Ihre Zufriedenheit zu verdienen, da alle meine Einrichtungen darauf hinzweken.“

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Wer über das Biographische hinaus auch noch einen Blick auf den Hauptort des Geschehens werfen will, dem sei „Goethes Weimar“ empfohlen. Dieses rund 350 Stichworte umfassende Lexikon der Personen und Schauplätze reicht von A wie Bernhard Rudolf Abeken, dem Rezensenten der „Wahlverwandtschaften“, bis Z wie Karl Friedrich Zelter, dem langjährigen Direktor der Berliner Singakademie.

Natürlich stehen Goethe und seine Familie im Mittelpunkt des Ganzen. Man erfährt etwas über seine Ärzte, seine Diener und Gärtner oder auch über seine Nachbarn, wie beispielsweise den Leinenwebermeister Johann Heinrich Herter, der Goethe über Jahre hinweg ein Dorn im Auge war. Die Mitglieder der aus dem Hause Sachsen-Weimar-Eisenach stammenden Regentenfamilie werden ebenso vorgestellt wie beispielsweise die Familie Schardt und deren Tochter Charlotte, spätere Freifrau von Stein, die seit Ende des 18. Jahrhunderts in Weimar ansässigen Egloffsteins oder das Ehepaar Knebel und dessen Kinder. Es gibt Artikel zu bekannten Personen, wie zu Goethes Sekretär Johann Peter Eckermann oder zum Verleger Friedrich Justin Bertuch, man findet aber gleichfalls Ausführungen zu längst Vergessenen, so zu einem gewissen Johann Martin Mieding, der das Mobiliar für Goethes Gartenhaus herstellte.

Man wird bekanntgemacht mit den damals üblichen Formen der Geselligkeit in Weimar, da geht es um Redouten und Maskenumzüge, um die Leseabende bei Anna Amalia, die Freitagsgesellschaft oder den Kreis der Weimarischen Kunstfreunde. Und, natürlich nicht zu vergessen, es wird auch das eine oder andere architektonische Objekt vorgestellt. Als da sind das Weimarer Schloss, die Fürstengruft, Goethes Gartenhaus im Park an der Ilm, das Große Jägerhaus, in dem sein Sohn August zur Welt kam, das im alten Jakobsviertel gelegene Kirms-Krackow-Haus oder das 1808 abgerissene Rote Schloss – um nur einige wenige zu nennen.

Effi Biedrzynski, die 2004 verstorbene Autorin des Lexikons, gilt bis heute als eine der besten Kennerinnen Goethes und seines Lebenskreises. Mit „Goethes Weimar“, ihrem erstmals 1992 erschienenen und für die Neuauflage überarbeiteten opus magnum, hat sie ein Standardwerk hinterlassen, das seinesgleichen sucht. Das mit ausführlichen Personen-, Sach- und Ortsregistern versehene Lexikon gehört nicht nur in das Regal von Goethe-Liebhabern, ist es doch zugleich ein anregender Wegweiser durch die Geschichte Weimars.

Stephan Oswald: Im Schatten des Vaters – August von Goethe. Eine Biographie, C. H. Beck Verlag, München 2023, 424 Seiten, 32,00 Euro.

Effi Biedrzynski: Goethes Weimar. Das Lexikon der Personen und Schauplätze, Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 512 Seiten, 30,00 Euro.